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Die Rigaer Straße ist ein Hotspot der linksradikalen Szene in Berlin.

© imago/Christian Mang

Autonome in Berlin-Friedrichshain: Was ein Besetzer der Rigaer Straße denkt

Hausbesetzungen und Brandanschläge: Seit Jahren halten radikale Aktivisten die Rigaer Straße in Berlin im Ausnahmezustand. Wir haben einen von ihnen getroffen.

Manche sagen, die Rigaer Straße sei die letzte Bastion gegen Gentrifizierung und Mietwahnsinn in Deutschland. Andere sehen hier ein Netz von Linksfaschisten und Terroristen. Immer, wenn in der Straße ein Auto brennt oder es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei kommt, entflammt auch die Diskussion um die Zukunft der Straße mit ihren ehemals besetzten Häusern.

In diesem Jahr wurden in der Straße schon vier Kraftfahrzeuge angezündet, wie die Berliner Polizei mitteilt. Bei allen vier Anschlägen geht die Polizei von politisch motivierter Kriminalität aus dem linken Milieu aus. „PMK-links“ nennt sie das. In den drei Jahren davor waren es jeweils drei angezündete Autos, die die Polizei alle bis auf zwei Taten im Jahr 2015 ebenfalls als „PMK-links“ einstuft. 2013 zählte die Polizei überhaupt keine Brandanschläge auf Autos.

Paul macht Musik zur Gewalt und denkt nach

Einer, der häufig dabei ist und seit 20 Jahren in der Straße wohnt, ist Paul. Unter dem Künstlernamen „Paul Geigerzähler“ liefert er mit seiner Musik eine Art Soundtrack zu den Straßenschlachten. „Wir leben im Gefahrengebiet“, heißt eines seiner Lieder. Wie lebt es sich also im Gefahrengebiet – und hat einer wie er vielleicht ein schlechtes Gewissen? „Wollt ihr das Ganze wirklich verstehen, solltet ihr uns einfach mal besuchen gehen“, singt Paul in dem heiter eingespielten Song. Und weiter: „Im Gefahrengebiet gibt’s manchmal Kaffee und Kuchen, ihr solltet uns wirklich mal besuchen.“

Kuchen hat Paul an diesem Freitag nicht da. Aber Kaffee, er lacht. Er ist barfuß und macht es sich im Garten seiner Wohngemeinschaft gemütlich. Seit einiger Zeit macht sich Paul Gedanken, ob das mit dem Autos anzünden noch das Richtige ist. „Die Frage ist: Nützt es Bewegungen gegen Gentrifizierung? Schafft oder blockiert es Verankerung im Kiez? Wie soll man das gewichten?“, sagt er und ruckelt auf dem Gartenstuhl hin und her. Es müsse über den Sinn von Aktionen, die bei den Nachbarn und im Rest der Stadt regelmäßig Verstörung auslösen, geredet werden. „Ob sie legal oder illegal, also kriminell, sind, ist dabei kein Kriterium.“ Denn legal seien ja wohl auch die Opposition in der DDR sowie Hausbesetzungen der Nachwendezeit nicht möglich gewesen. „Dennoch bleibt die Frage nach Sinn und Zweck beziehungsweise politischem Kosten und Nutzen der Autobrände.“

Autos anzünden ist einfach

Wo genau er wohnt, möchte Paul nicht veröffentlicht sehen, auch seinen richtigen Namen nicht. Auf Fragen, ob er selbst auch Autos anzündet, reagiert der 39-Jährige nur mit einem Lächeln. Immerhin kann er erklären, wie man das macht: Einfach Kohlestücke auf die Reifen legen und anzünden. Auch deswegen nennt die Polizei „einen kleinen Bereich der Rigaer Straße“ einen „kriminalitätsbelasteten Ort“.

In Berlin sind das zum Beispiel noch der Alexanderplatz und der Görlitzer Park. Es sind Orte, an denen schwere Straftaten begangen werden: Drogenhandel, Raub, gefährliche Körperverletzung, Brandstiftung. Die Polizei darf hier ohne Verdacht Menschen kontrollieren und durchsuchen. Wo genau so ein Gebiet anfängt und aufhört, wird nicht verraten, denn es soll vermieden werden, dass Straftäter mit diesem Wissen nur die Straßenseite wechseln.

Soundtrack der Besetzer. Paul lebt seit 20 Jahren in der Rigaer Straße.
Soundtrack der Besetzer. Paul lebt seit 20 Jahren in der Rigaer Straße.

© Robert Klages

Paul wurde in Bautzen geboren und ist später mit den Eltern nach Ost-Berlin gezogen. Dort hat er die Schule geschmissen, um „eine Lehre als Hausbesetzer“ anzufangen, witzelt er. Zunächst zog er in das dem Elternhaus benachbarte Hausprojekt „Kleine Hamburger 5“. Da war er gerade mal 17 Jahre alt. Heute stehen dort „Luxuswohnungen“, wie Paul sie nennt. 1996 wurde die „Kleine Hamburger“ geräumt. Er zog weiter in besetze Häuser in Mitte und Friedrichshain.

„Ich würde mich als Anarchist bezeichnen“

In der WG, in der er jetzt wohnt, haben sie inzwischen Mietverträge. Er versucht, sich als Musiker durchzuschlagen. Zwischendurch mal Hartz IV oder Gelegenheitsjobs. „Ich würde mich als Anarchist bezeichnen“, sagt er. „Und von der autonomen Szene nicht abgrenzen.“

Mit den brennenden Autos und den Farbbeutel-Attacken auf die Neubauten soll der Kiez unattraktiv für Investoren gemacht werden, erzählt Paul bei einem Rundgang durch die Straße. Praktisch schüchtert es allerdings auch so manchen Anwohner ein. „Ich parke mein Auto niemals hier in der Straße“, sagt ein junger Mann, der „schon ein paar Jahre“ in der Nähe der Rigaer Straße 94 wohnt.

Dass man sein Auto hier nicht über Nacht stehen lassen sollte, wisse doch jeder. „Ich muss morgens dann etwas weiter zu meinem Auto laufen, aber das ist mir lieber, als es mir von den Chaoten hier anzünden zu lassen.“ Übers Wegziehen hat er schon oft nachgedacht. „Aber die Mieten andernorts sind viel zu hoch. Oder ich muss in so einen Randbezirk ziehen, da brauche ich dann Stunden, bis ich auf der Arbeit bin.“ Am besten sei es, kein Auto zu haben, meint eine Frau um die 30. Sie ist erst vor zwei Jahren hierhergezogen. „Man weiß doch, auf was man sich hier einlässt.“

Beim Rundgang durch die Rigaer Straße geht es später vorbei an Neubauten. An einem Fenster sind Kindermalereien von der Innenseite und Kleckse von Farbbeuteln auf der Außenseite zu sehen. Das ganze Gebäude ist gesprenkelt mit Farbe, einige Scheiben wurden wohl mit Steinen beworfen.

Alles schöne wird "enteignet"

Es sei eine zwiespältige Sache, sagt Paul: Generell wäre es toll, die Gegend etwas attraktiver zu gestalten. „Aber alles, was du schönmachst, wird sofort enteignet von der Immobilienwirtschaft. Ich trete auch nicht gern in Hundehaufen. Aber alles andere ist noch deprimierender.“ Soll heißen: Wenn die Straße einladend, bunt und fröhlich wird, würde sie umso schneller gentrifiziert werden. Gerne würde Paul noch mehr Konzerte, Lesungen, Filmabende und andere Dinge veranstalten. „Aber, wenn wir sowas hier betreiben, macht Kreuzberg damit Geld und bewirbt die Stadt als interessante Studentengegend.“ Es sei immerhin die Besetzerszene gewesen, die den Kiez überhaupt attraktiv gemacht habe.

Das Für und Wider von Autobränden

Dann sinniert er weiter über Sinn und Zweck der Autobrände: „Dieses wahllose Anzünden, davon bin ich nicht so der Freund.“ Wenn ein Auto von einer Leiharbeitsfirma brenne, „da würde ich noch sagen: okay“. Wenn jedoch „Krankenschwester Meier“ nicht mehr zur Arbeit fahren könne, weil ihr Wagen abgefackelt wurde, „kann das nicht gut sein“. Denn: „Man will ja mit den Nachbarn gut leben.“ Dennoch, da ist sich Paul sicher: Brennende Autos seien der einfachste Weg, dass alles zumindest ein wenig so bleibt, wie es nie war. Viele Nachbarn werden es anders sehen.

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