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Berlin: Baby Michelle kommt vorerst zu einer Pflegefamilie

Jugendamt hatte seit Monaten Kontakt zu der Mutter des untergewichtigen Kindes, fand aber, es sei in einem ordentlichen Zustand

DER FALL DES VERNACHLÄSSIGTEN MÄDCHENS IN CHARLOTTENBURG

Von Sigrid Kneist

und Jörn Hasselmann

Die kleine Michelle, die Polizeibeamte bei einem Einsatz am Montagabend aus der Wohnung ihrer Mutter geholt und dem Kindernotdienst übergeben haben, ist derzeit zur Beobachtung durch einen Kinderarzt im Krankenhaus. Wie der Jugendstadtrat von Charlottenburg-Wilmersdorf, Reinhard Naumann (SPD) gestern sagte, zeigt das einjährige Mädchen Entwicklungsrückstände und ist leicht untergewichtig. Lebensbedrohlich sei die Situation für das Kind aber nicht gewesen. Naumann wollte gestern nicht von Verwahrlosung sprechen. Das Kind sei eher vernachlässigt und die Mutter überfordert gewesen. Sie habe aber den Polizeibeamten noch frische Wäsche für ihr Baby mitgegeben, sagte der Jugendstadtrat. Auch die Wohnung sei nicht durchweg in einem verwahrlosten Zustand gewesen, lediglich im Schlafzimmer hätten sich unter anderem auch schmutzige Windeln gestapelt.

Sobald die Kleine aus der ärztlichen Beobachtung entlassen werden kann, will das Jugendamt sie in eine so genannte Kurzzeitpflege in einer Familie geben. Dazu wird das Amt beim Familiengericht den Antrag stellen, der allein erziehenden 20-jährigen Mutter vorläufig das Personensorgerecht zu entziehen. In dieser Zeit will das Amt überprüfen, ob die Mutter in der Lage sein wird, wieder selbst für ihr Kind zu sorgen, oder ob sie weiter damit überfordert wäre. Dabei wird nach Naumanns Angaben auch geschaut, welche Hilfestellungen das Jugendamt der Mutter geben kann. Denkbar wäre dann beispielsweise der Einsatz einer Familienhilfe. Zu der jungen Frau hat das Jugendamt aber derzeit keinen Kontakt.

Auslöser des Einsatzes war ein Anruf des Hausmeisters aus dem Wohnkomplex am Spandauer Damm bei der Polizei. Er hatte gemeldet, dass ein von der Polizei wegen eines Betrugsdeliktes gesuchter Mann sich öfter bei der Mutter aufhielt. Während dieses Routineeinsatzes wurden die Beamten auf das Kind aufmerksam. Schon im Frühjahr hatten sich Nachbarn um das Wohl des Babys gesorgt und sich an den Stadtrat und das Jugendamt gewandt. Ihnen war aufgefallen, dass die kleine Michelle nie zu sehen war.

Bei zwei nach Naumanns Angaben unangemeldeten Hausbesuchen hatten die zuständigen Sozialarbeiterinnen den Eindruck, dass das Kind in einem ordentlichen Zustand war. Auch der von ihnen ebenfalls kontaktierte Kinderarzt hatte keine Anzeichen bemerkt, die auf eine Vernachlässigung hätten deuten können. Zum letzten Mal hatten die Amtsmitarbeiter das Mädchen Mitte Juni persönlich gesehen.

Während Nachbarn der Meinung sind, das Amt habe sich anschließend nicht mehr genügend um den Fall gekümmert, sieht Naumann bei seinen Mitarbeitern keine Versäumnisse. Allenfalls könne man sich über Zeitabstände Gedanken machen. Als die Mutter zwei Beratungstermine im Juli nicht wahrgenommen hatte, konnte zwar per Handy telefonisch Kontakt zu der Frau aufgenommen werden, bei weiteren unangemeldeten Hausbesuchen wurden sie und das Kind jedoch nicht angetroffen. Am 5. August standen die Sozialarbeiterinnen zuletzt erfolglos vor der Wohnungstür im fünften Stock. Zwei Tage später besuchten sie jedoch die Mutter der jungen Frau. Diese sicherte zu, mit ihrer Tochter zu reden, damit diese wieder den Kontakt mit dem Jugendamt sucht. Sie sehe ihre Tochter am 11. August zu Michelles erstem Geburtstag. An dem Abend holte die Polizei das Kind aus der Wohnung.

Naumann sagte gestern, sein Amt nehme prinzipiell alle Hinweise von Nachbarn ernst, auch in diesem Fall: „Das hat nichts mit Petzen oder Blockwartmentalität zu tun.“ Auch anonymen Tipps werde selbstverständlich nachgegangen. Das Kindeswohl stehe immer im Mittelpunkt.

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