zum Hauptinhalt
Gemeinsamer Weg. Viele wollen nicht, dass ihre Angehörigen im Alter oder im Pflegefall aus dem vertrauten Umfeld gerissen werden.

© ddp

Alzheimer: Bange Stunden am Vormittag

Wie eine 50-Jährige die Herausforderung bewältigt, ihren alzheimerkranken Mann zu betreuen und trotzdem ihrem Beruf nachzugehen. Der Staat bietet Arbeitnehmern, die Angehörige pflegen, nur wenig Unterstützung. Sie sind vor allem auf das Wohlwollen der Arbeitgeber angewiesen

Frau Hoffmann möchte sie in der Zeitung heißen, weil ihr Leben so sehr auf Hoffnung gebaut ist. Auf der Hoffnung, dass sich die Alzheimer-Krankheit ihres Mannes nicht unaufhaltsam verschlimmert und er sie bald nicht mehr erkennt. Auf der Hoffnung, dass sie die Doppelbelastung aus Beruf und Betreuung weiterhin durchhält. Und auf der Hoffnung, dass ihr die gute Laune nicht abhanden kommt – selbst wenn sie manchmal nur aufgesetzt scheint. „Ich muss gute Laune haben“, sagt Frau Hoffmann. Wenn sie auf ihren Mann, der seine Krankheit verdrängt, verzweifelt oder beunruhigt wirkt, bröckeln seine Illusionen. Solche Wirklichkeitsschocks führen dazu, dass Herr Hoffmann tagelang nicht spricht.

Frau Hoffmann ist 50 und arbeitet in einer Kindertagesstätte in Wedding. „Ich schmeiße dort die Küche“, sagt sie. Um sieben Uhr früh fängt sie damit an, ab 14.30 Uhr kümmert sie sich um ihren Mann. Kocht Essen und Kaffee, geht mit ihm spazieren und erinnert ihn an die kleinen Dinge des Alltags: ans Duschen oder Zähneputzen etwa, das er oft vergisst. Ihr Mann geht dann ins Bad, kommt zurück und fragt, was er eigentlich erledigen wollte. Frau Hoffmann erklärt es ihm, bis es klappt, beiläufig und geduldig, damit die Stimmung nicht kippt, immer wieder.

Ihre Tage sind lang, Entspannungsmomente selten. Die beiden Söhne der Hoffmanns springen zwar hin und wieder ein, haben aber keinen besonderen Zugang zu ihrem alzheimerkranken Vater. Ihre Stelle aufgeben will Frau Hoffmann auf keinen Fall. Weil sie fürchtet, in ihrem Alter sonst nie wieder einen Job zu bekommen. Und weil die Arbeit auch ein Ausgleich ist: „Es tut gut, unter gesunden Menschen zu sein“, sagt sie.

96 000 Berliner wurden 2007 einer der drei Stufen der Pflegeversicherung zugeordnet. Hinzu kommen laut Berliner Familienbericht etwa 23 000 Pflegebedürftige, die wie Herr Hoffmann keine oder noch keine Ansprüche auf Versicherungsleistungen haben. Mehr als 46 000 Betroffene werden ausschließlich von Angehörigen versorgt. Laut einer repräsentativen Emnid-Umfrage beteiligen sich fünf Prozent der Deutschen an der häuslichen Pflege eines Verwandten. Auf Berlin gerechnet sind somit rund 170 000 Menschen in die Betreuung und Pflege von Angehörigen eingebunden. „Nur 26 Prozent der Hauptpflegepersonen gelingt es, ihre Erwerbstätigkeit bei Aufnahme der Pflegetätigkeit unverändert fortzusetzen“, heißt es im Familienbericht.

Frau Hoffmann schafft das seit viereinhalb Jahren. Damals diagnostizierten die Ärzte bei ihrem heute 54 Jahre alten Mann Alzheimer. Lange zuvor schon hatte er sich seltsam verhalten und allzu oft seine Schlüssel verlegt. Auch beruflich lief es für den Vorarbeiter in einer Röhrenfabrik nicht mehr rund. „Mein Mann beklagte sich, sein Chef möge ihn nicht mehr und übertrage ihm immer weniger Aufgaben“, erinnert sich Frau Hoffmann. Wegen seines Alzheimers ist er inzwischen Frührentner. Die Diagnose kennt er, aber er akzeptiert sie nicht. „Er glaubt, die Krankheit sei noch nicht ausgebrochen“, sagt Frau Hoffmann. Damit die Wahrheit nicht an seinem Selbstwertgefühl nagt, biegt er sie zurecht. Lange schon ist Herr Hoffmann auch Diabetiker und muss Insulin spritzen. Er will glauben, dass er nur deshalb nicht mehr arbeiten kann. Besucht Frau Hoffmann Informationsveranstaltungen über Alzheimer, behauptet sie, länger arbeiten zu müssen. Sie lebt seit der Diagnose doppelte Tage und in zwei Wirklichkeiten. Gegen die Scheinrealität ihres Mannes rennt sie nicht mehr an.

Die dauerhafte Betreuung und Pflege kranker Angehöriger führt oft zu Überforderungen. „Diese sind teilweise finanzieller und materieller Art, doch die stärksten Belastungen sind psychischer und physischer Natur“, heißt es im Familienbericht. Gliederschmerzen sowie Herz- und Magenbeschwerden treten bei pflegenden Angehörigen gehäuft auf. Besonders dann, wenn sie wie Frau Hoffmann kognitiv beeinträchtigte Menschen betreuen und einem Beruf nachgehen.

Diese Arbeitnehmer wünschen sich in erster Linie Freistellungsmöglichkeiten für ihre Pflegeaufgaben. Auch familienfreundliche Arbeitszeiten, ein gutes Betriebsklima und die Vermittlung von Betreuungsangeboten rangieren in Befragungen weit oben. Die Realität in Berliner Unternehmen sieht oft anders aus. „Praktikable Lösungen für Beschäftigte mit privater Pflegeverantwortung sind selten“, urteilt der Familienbericht. Ein Patentrezept gibt es ohnehin nicht. „Es wird immer nur eine Minderheit von einzelnen Maßnahmen profitieren“, sagt Rosemarie Drenhaus-Wagner, die Erste Vorsitzender der Alzheimer Angehörigen- Initiative (AAI), und denkt dabei an Heimarbeitsplätze für Büroangestellte. Letztlich müssten Arbeitgeber und Arbeitnehmer jeweils individuell aushandeln, was für beide Seiten vertretbar sei.

Frau Hoffmann hat es in dieser Hinsicht gut getroffen. Anfangs informierte sie lediglich ihre Chefin über ihre familiäre Situation. Die reagierte nicht nur verständnisvoll, sondern vermittelte sogar Kontakt zur AAI. Unvermeidliche Erledigungen während der Arbeitszeit wie Arztbesuche sind kein Problem. Gegenüber den Kollegen verschwieg Frau Hoffmann die Krankheit ihres Mannes zunächst, bis es nach einer Weile in einer Teambesprechung aus ihr herausplatzte. „Ich wollte, dass alle Bescheid wissen, warum ich in Pausen öfters meine Ruhe brauche und mich zurückziehe“, sagt sie. Ihr ist wohler, seit die Kollegen ihre Sorgen einordnen können.

Morgens und mittags kommt ein Pflegedienst zu Herrn Hoffmann, um bei den Mahlzeiten und bei der Blutzuckerkontrolle zu helfen. Finanziert wird die Hilfe über ein Betreuungsgeld, das für die häusliche Pflege von Angehörigen vorgesehen ist und auch ohne eine der Pflegestufen bewilligt werden kann. Der zuckerkranke Alzheimerpatient würde sonst den Überblick über seine Insulindosis verlieren. Eine Injektion zu viel würde zu Unterzuckerung führen und könnte schlimme, sogar tödliche Folgen haben. Von 9 bis12 Uhr ist Herr Hoffmann allein – für seine berufstätige Frau oft genug bange Stunden. Eine ihrer vielen Hoffnungen ist, dass bald die Pflegestufe 1 bewilligt wird. Weil zu Hause dann ständig ein Pflegedienst wäre, könnte sie wenigstens angstfreier arbeiten.

Die AAI, Reinickendorfer Straße 61, in 13347 Berlin (Wedding) hilft Angehörigen von demenzkranken Menschen mit Informationen und individueller Beratung weiter. Kontakt unter 47 37 89 95 oder im Internet unter www.alzheimerforum.de

Kauftipp

Pflegeheimführer mit Demenz-Schwerpunkt

Einen ausführlichen Schwerpunkt rund um das Thema Betreuung von Demenzerkrankten in Wohngemeinschaften und Pflegeheimen finden Sie im „Pflegeheimführer Berlin 2010/2011“ von Tagesspiegel und Gesundheitsstadt Berlin. Das rund 240 Seiten starke Buch kostet 12,80 Euro (Tagesspiegel-Abonnenten 9,80 Euro) und kann per Telefon: 29021-520 oder im Internet www.tagesspiegel.de/shop bestellt werden. Tsp

Zur Startseite