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BARACK OBAMA: Nachbarn an die Macht

Der neue US-Präsident, der am Dienstag vereidigt wird, hat vor gut 20 Jahren in Chicago als „Community Organizer“ gearbeitet, als Gemeinwesenarbeiter. Vergleichbar mit einem Quartiersmanager hat Barack Obama die Bewohner der armen Viertel dabei unterstützt, ihre Lage zu verbessern. Hier schreibt er, was andere Städte – wie Berlin – davon lernen können.

In den letzten fünf Jahren hatte ich häufig Schwierigkeiten, Menschen meinen beruf zu erklären. Bezeichnend dafür ist die Bemerkung einer Verwaltungshelferin an einer öffentlichen Schule, die sie an einem grauen Januarmorgen machte, als ich darauf wartete, Flyer an eine Gruppe wütender Eltern auszuhändigen, die soeben entdeckt hatte, dass ihre Schule von Asbest befallen war.

"Hören Sie mal, Obama," begann sie. "Sie sind doch ein kluger junger Mann, Obama. Sie sind doch zum College gegangen, oder?" Ich nickte. "Ich verstehe einfach nicht, wieso ein so aufgeweckter Mann wie Sie zum College geht, seinen Abschluss macht und dann Community Organizer wird." "Warum denn nicht?"

.....die Bezahlung ist schlecht, die Arbeitszeiten lang, und Anerkennung gibt es auch nicht." Sie schüttelte verwundert den Kopf, als sie sich davonmachte, um sich wieder ihren Pflichten zu widmen.

Ich habe mehr als einmal an dieses Gespräch gedacht, während ich mit dem Developing Communities Project im tiefsten Süden Chicagos beschäftigt war. Leider waren die Antworten, die mir in den Sinn kamen, nicht annähernd so einfach wie ihre Frage. Die kürzeste Antwort ist wohl: Es muss gemacht werden, und zu wenige tun es.

Die Debatte darüber, wie Schwarze und andere verarmte Menschen in Amerika vorankommen können, ist nicht neu. Von W.E.B. DuBois über Booker T.Washington, Marcus Garvey, Malcolm X bis hin zu Martin Luther King schwankt diese interne Debatte zwischen Integration und Nationalismus, zwischen Verständigung und Militanz, zwischen Sitzstreiks und Verhandlungen in den Chefetagen. Trennlinien zwischen diesen Strategien wurden nie eindeutig gezogen, und die erfolgreichsten schwarzen Anführer hatten erkannt, dass diese scheinbar unvereinbaren Herangehensweisen kombiniert werden müssen. In den frühen Jahren der Bürgerrechtsbewegung sind viele dieser Themen angesichts der klaren Unterdrückung durch die Rassentrennung untergegangenes ging bei der Debatte nicht mehr darum, ob protestiert werden sollte, sondern nur noch darum, wie militant dieser Protest aussehen müsse, um für die Schwarzen die vollen Bürgerrechte zu gewinnen.

Zwanzig Jahre später sind die Spannungen zwischen den Strategien wieder zum Vorschein gekommen, was teilweise auf der Erkenntnis beruht, dass trotz aller Errungenschaften der 1960er Jahre die Mehrheit der Schwarzen weiterhin Bürger zweiter Klasse ist. Damit verbunden ist das - reale, wahrgenommen oder erfundene -Versagen der Great Society Programme, die von Lyndon Johnson eingeleitet wurden. Wenn man sich mit diesen Realitäten auseinander setzt, offenbaren sich mindestens drei zentrale Themen der früheren Bewegungen.

Das erste und bekannteste Thema ist der akute Anstieg politischen Einflusses im ganzen Land. Harold Washington und Jesse Jackson sind eindrucksvolle Beispiele dafür, wie die Energie und Leidenschaft der Bürgerrechtsbewegung in Bewerbungen um traditionelle politische Ämter kanalisiert worden sind. Zweitens, es gab eine Wiederbelebung der Versuche, in der schwarzen Community die ökonomische Entwicklung voranzutreibende! es durch lokale unternehmerische Anstrengungen, die verstärkte Einstellung schwarzer Handwerker und Manager oder durch "Kauft Schwarz"-Kampagnen. Drittens, und vielleicht am wenigsten bekannt ist Community Organizing an der Basis, das auf der Führung durch Betroffene und auf der direkten Aktion beruht. Befürworter von Strategien politischer Wahlämter und wirtschaftlicher Entwicklung können auf wesentliche Errungenschaften der letzten zehn Jahre verweisen. Eine Zunahme schwarzer Inhaber öffentlicher Ämter bietet zumindest die Hoffnung, dass die Regierung mehr auf die innerstädtischen Wähler eingeht. Wirtschaftliche Entwicklungsprogramme können strukturelle Verbesserungen und Arbeit für verelendete Gemeinden liefern.

Jedoch bietet aus meiner Sicht keiner der beiden Ansätze eine dauerhafte Hoffnung für wirklichen Wandel in den Innenstädten, solange sie nicht durch einen systematischen Community Organizing Ansatz unterstützt werden. Das liegt daran, dass die Probleme der Innenstädte komplexer und tiefer verwurzelt sind als jemals zuvor. Offene Diskriminierung wurde durch institutionellen Rassismus ersetzt, Probleme wie Schwangerschaften von Teenagern, Bandenzugehörigkeit und Drogenmissbrauch können nicht mit Geld allein gelöst werden. Professor William Julius Wilson von der University of Chicago hat darauf hingewiesen, dass zur selben Zeit die innerstädtische Wirtschaftkraft abnahm und Schwarze aus der Mittelklasse die Nachbarschaften, die sie einst am Leben erhalten haben, verließen.

Weder die Strategie, Schwarze in politische Wahlämter zu bringen noch eine Strategie der wirtschaftlichen Selbsthilfe und interner Entwicklung können aus sich heraus Antworten auf diese neuen Herausforderungen geben. Die Wahl von Harold Washington in Chicago oder Richard Hatcher in Gary haben einen wichtigen symbolischen Effekt erreicht, aber sie reichten nicht, um Arbeitsplätze in die innerstädtischen Nachbarschaften zu bringen oder eine 50-prozentige Abbruchrate in den Schulen zu senken. Tatsächlich haben uns die dringend benötigten Erfolge Schwarzer in bedeutenden Ämtern in den Städten in die unangenehme Position gebracht, unterfinanzierte Systeme zu verwalten, die weder dafür ausgerüstet noch interessiert sind, sich an den Bedürfnissen der städtischen Armen zu orientieren. So sind sie gezwungen, deren Interessen zu Gunsten der mächtigeren Forderungen anderer Sektoren zu vernachlässigen. Selbsthilfestrategien zeigen ähnliche Begrenztheit. Obwohl sie sowohl lobenswert als auch notwendig sind, ignorieren sie häufig die Tatsache, dass ohne eine stabile Community, eine gebildete Bevölkerung, eine adäquate Infrastruktur und einen informierten und beschäftigten Markt, weder neue noch etablierte Firmen bereit sind, sich in der Innenstadt anzusiedeln und gleichzeitig im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Zusätzlich können solche Herangehensweisen leicht verhüllte Ausreden sein, um Sozialprogramme zu kürzen, die der konservativen Agenda ein Dorn im Auge sind.

Theoretisch liefert Community Organizing einen Weg, verschiedene Strategien zur Stärkung von Nachbarschaften zusammen zu führen. Organizing beruht auf der Annahme, (1) dass die Probleme, mit denen die innenstädtischen Gemeinden konfrontiert sind, nicht von einem Mangel an wirksamen Lösungen herrühren, sondern von einem Mangel an Macht, diese Lösungen umzusetzen, (2) dass der einzige Weg für Nachbarschaften, längerfristig stark zu werden, ist, Menschen und Geldmittel um eine gemeinsame Vision herum zu organisieren; und (3) dass brauchbares Organizing nur erreicht werden kann, wenn sich eine breit verankerte Führungsgruppe aus Stadtteilbewohnern bildet - und nicht nur ein oder zwei charismatische Führungspersönlichkeiten - die die unterschiedlichen Interessenlagen ihrer örtlichen Institutionen verknüpfen kann.

Das bedeutet, Kirchen, Nachbarschaftsclubs, Elterngruppen und andere Institutionen in einem Gemeinwesen zusammen zu bringen, damit sie Beiträge zahlen, Organizer anstellen, Forschung betreiben, Führungskräfte hervorbringen, Demonstrationen und Bildungskampagnen abhalten und Pläne für eine ganze Reihe von Themen - Arbeit, Bildung, Verbrechen etc. - machen. Wenn das erst einmal angelaufen ist, hat es die Macht, Politiker, Behörden und Unternehmen dazu zu bewegen, sich mehr um die Bedürfnisse der Nachbarschaften zu kümmern. Genauso wichtig ist, dass es den Leuten ermöglicht, die sie behindernde Isolierung voneinander zu durchbrechen, ihre gemeinsamen Werte und Erwartungen zu entwickeln und die Kraft gemeinsamen Handelns zu entdecken -- die Voraussetzungen jeder erfolgreichen Selbsthilfeinitiative. Mit diesem Ansatz haben das Developing-Communities-Project und andere Organisationen in Chicagos Innenstadt einige beeindruckende Resultate erreicht. Schulen sind jetzt mehr rechenschaftspflichtig, Job-Trainings-Programme wurden eingerichtet, Wohnraum wurde renoviert und neu geschaffen; städtische Dienstleistungen wurden erbracht; Parkanlagen wieder hergerichtet; Kriminalitäts- und Drogenprobleme wurden eingeschränkt. Außerdem haben jetzt ganz normale Leute Zugang zu den Schalthebeln der Macht und es wurde eine große Menge lokaler zivilgesellschaftlicher Führung entwickelt.

Aber das Organisieren der schwarzen Community steht auch enormen Problemen gegenüber. Ein Problem ist die nicht ganz unbegründete Skepsis, auf die viele Organizer in den Stadtteilen treffen. Chicago war zu einem großen Teil der Geburtsort des Community Organizing und die Stadtlandschaft ist mit den Skeletten vorheriger Anstrengungen übersät. Viele der wohlwollensten Leute in der Gemeinschaft haben bittere Erinnerungen an diese Misserfolge und zögern, neue Hoffnung in diesen Prozess zu setzen. Ein verwandtes Problem ist der zuvor beschriebene Exodus der finanziellen Ressourcen, Institutionen, Vorbilder und Jobs aus den Innenstädten. Sogar in den Gegenden, die bisher nicht völlig heruntergekommen sind, können sich die meisten Haushalte nur mit zwei Einkommen über Wasser halten. Traditionell wurde das Community Organizing durch Frauen unterstützt, die durch Tradition und soziale Diskriminierung die Zeit und Muße hatten, an etwas teilzunehmen, das eine im Kern freiwillige und unbezahlte Aktivität ist. Heute arbeiten die meisten Frauen in der schwarzen Community ganztags. Viele sind alleinerziehend, und sie alle müssen sich selbst zwischen Arbeit, Kindeserziehung, Führung eines Haushalts und ein bisschen Privatleben aufteilen - all das lässt die freiwillige Arbeit in der Prioritätenliste nach unten rutschen.

Dazu kommt der langsame Exodus der schwarzen Mittelschicht in die Vororte, der dazu führt, dass die Leute in einem Viertel einkaufen, in einem anderen arbeiten, ihre Kinder in eine Schule am anderen Ende der Stadt schicken und eine Kirche in einem Viertel besuchen, in dem sie nicht leben. Diese geografische Zersplitterung führt zu wirklichen Problemen, wenn in einem Wohngebiet ein Engagement für gemeinsame Vorhaben geweckt werden soll. Schließlich werden Community Organisationen und Organizers auch dadurch behindert, dass sie bezüglich Stil und Substanz des Organisierens dogmatisch denken. Die meisten folgen noch immer dem Ansatz, den Professor John McKnight von der Northwestern University "Vertretung von Verbraucherinteressen" nennt, wobei man sich darauf konzentriert, Leistungen und Ressourcen von außenstehenden Kräften zu erkämpfen. Wenige denken daran, interne produktive Kapazitäten zu nutzen, die sowohl im finanziellen als auch im personellen Sinne in den Communities bereits existieren.

Unser Ansatz bezogen auf Medien und Öffentlichkeitsarbeit ist ähnlich in der Entwicklung gehemmt, wenn man ihn mit den hochgepowerten Postwurfsendungen und Videos vergleicht, die konservative Organisationen wie die "Moralische Mehrheit" erfolgreich einsetzen. Das Wichtigste ist, dass der geringe Verdienst, fehlendes hochwertiges Training und schlecht definierte Karrieremöglichkeiten die talentiertesten jungen Schwarzen davon abhält, Organizing als legitime Karriereoption zu sehen. Solange die Besten und Begabtesten der nachwachsenden Generation größere Chancen in einer Wirtschaftskarriere als im Aufbau ihrer eigenen Community sehen, wird das Organizing schwer im Hintertreffen bleiben.

Keines dieser Probleme ist unlösbar. In Chicago haben das Developing Communities Project und andere Organisationen ihre Ressourcen zusammengelegt, um kooperative Ideenfabriken wie die Gamaliel Stiftung zu gründen. Diese bieten einen formellen Rahmen, in dem erfahrene Organizer die alten Modelle an die neuen Realitäten anpassen können, und ein gesundes Umfeld zum Rekrutieren und Ausbilden neuer Organizer. Gleichzeitig haben das Führungs-Vakuum und die Desillusionierung nach dem Tode Harald Washingtons die Medien und die Menschen in den Nachbarschaften offener für die neuen Ansätze des Community Organizings gemacht. Nirgendwo ist das Versprechen des Organizing sichtbarer als in den traditionellen schwarzen Kirchen. Mit ihren gewaltigen finanziellen Ressourcen, vielen Mitgliedern und - und das ist am wichtigsten - ihren Werten und biblischen Traditionen, die nach Stärkung der Schwachen und Befreiung rufen, ist die schwarze Kirche offensichtlich ein schlafender Riese in der politischen und wirtschaftlichen Landschaft von Städten wie Chicago. Die strikte Unabhängigkeit der schwarzen Pastoren und eine Präferenz für traditionelle Wege des sozialen Engagements (die Unterstützung von Kandidaten im Wahlkampf, Hilfe für Obdachlose) haben die schwarze Kirche daran gehindert, ihre ganze Kraft auf die politische, soziale und ökonomische Arena der Stadt zu konzentrieren. In den letzten Jahren haben aber immer mehr junge, fortschrittliche Pastoren begonnen, Community-Organisation wie das Developing Communities Project im tiefen Süden Chicagos und GREAT in der Grand Boulevard Gegend als mächtiges Werkzeug zu sehen, um die Social-Gospel-Bewegung voranzutreiben, ein Werkzeug, das ganze Gemeinden bilden und stärken kann und nicht nur eine Plattform für eine paar prophetische Führer ist. Sollten sich von den Tausenden Gemeinden, die es in Städten wie Chicago gibt, nur 50 dazu entschließen, mit ausgebildeten Organizern zusammenzuarbeiten, könnte das zu enormen positiven Veränderungen in der Ausbildung, der Wohnsituation, der Arbeit und der Stimmung der innerstädtischen schwarzen Community führen, Veränderungen, die kräftige Nachwirkungen in der ganzen Stadt haben würden.

In der Zwischenzeit werden Organizer weiter an den lokalen Erfolgen arbeiten, von ihren vielen Misserfolgen lernen und ihren kleinen aber wachsenden Kern von Anführern rekrutieren und weiterbilden - Mütter mit Sozialhilfe, Postangestellte, Busfahrer und Leh-rer,die alle eine Vision und eine Vorstellung davon haben, was aus ihren Communities werden kann. Eigentlich findet man die Antwort auf die ursprüngliche Frage - why organize? - bei diesen Leuten. Wenn man dabei hilft, dass eine Gruppe Hausfrauen dem Bürgermeister der drittgrößten amerikanischen Stadt am Verhandlungstisch gegenüber sitzt und sich behauptet, oder wenn ein Stahlarbeiter in Rente vor einer Fernsehkamera steht und seinen Träumen über die Zukunft seines Enkelkindes eine Stimme verleiht, erkennt man den wichtigsten und befriedigendsten Beitrag des Organisierens.

Im Gegenzug lehrt Organizing mehr als alles andere die Schönheit und Kraft alltäglicher Menschen. Durch die Lieder in der Kirche und das Gerede auf der Veranda, durch Hunderte persönlicher Geschichten darüber, aus dem Süden zu kommen und einen Job zu finden, von dem man leben kann, eine Familie mit minimalem Budget großzuziehen, einige Kinder an Drogen zu verlieren und andere dabei zu beobachten, Abschlüsse und Jobs zu erreichen, von denen ihre Eltern nicht einmal geträumt hätten - durch diese Geschichten und Lieder über zerstörte Hoffnungen und die Kraft des Weitermachens, die Hässlichkeit und den Kampf, den Feinsinn und das Lachen, können Organizer einen Gemeinschaftssinn nicht nur für andere, sondern auch für sich selbst schaffen.

Übersetzung: Jonas Flötotto und Herbert Scherer. Der Text stammt aus der Zeitschrift „Illinois Issues“ von 1988.

Barack Obama

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