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kindernotdienst

© S.-Klaas

Bedrohte Kindheit: Feuerwehr für verletzte Seelen

Seit 30 Jahren hilft der Kindernotdienst in familiären Krisensituationen. Die Fälle sind ähnlich geblieben – nur ihre Zahl hat deutlich zugenommen.

Jeremias (Name geändert) springt in eine Wanne voller bunter Bälle und quietscht vor Vergnügen. Dann robbt der kleine Junge an den Rand und zieht sich rasch nach oben. „Komm, Jeremias, zeig mal, was du kannst“, ruft Stefan Müller ihm zu. Der Sozialpädagoge streift dem Siebenjährigen Boxhandschuhe über, und die Fäuste des Jungen versetzen einen ledernen Sandsack, der von der Decke hängt, in Schwingung. Jeremias knufft seinen Betreuer in die Seite, schließlich liegen beide auf dem Boden und rangeln miteinander. Müllers Job fordert vollen Körpereinsatz: „Es ist total wichtig, dass sich die Kinder mal richtig austoben.“

Warum der kleine Junge mit den dunkelblonden Locken beim Kindernotdienst gelandet ist, darüber sagt der Sozialarbeiter nichts. Kein Wort darüber, ob Jeremias’ Mutter zu viel Alkohol trinkt und ihr Kind schlägt. Ob er vernachlässigt oder missbraucht wurde oder sich einfach allein fühlte und die Kinderschutzhotline angerufen hat. Der Kindernotdienst an der Gitschiner Straße 48/49 ist seit 30 Jahren ein Schutzraum für Kinder. Dazu gehört, dass ihre Geschichten vertraulich behandelt werden.

Auf dem Kreuzberger Gelände steht das „Weiße Haus“, in dem zehn Kinder untergebracht werden können. „Wir springen da ein, wo das Jugendamt nicht mehr erreichbar ist“, sagt Mitarbeiterin Beate Köhn. Der Kindernotdienst ist an 365 Tagen im Jahr 24 Stunden erreichbar – seit einem Jahr gibt es auch die Kinderschutzhotline. Unter der Telefonnummer 61 00 66 können sich alle wenden, die das Kindeswohl bedroht sehen. „Soziale Feuerwehr“ nennt es Beate Köhn. Die meisten Anrufe kommen von Polizisten, die auf Kinder in Not aufmerksam werden. Dann fährt einer der Mitarbeiter von der Gitschiner Straße entweder auf die Polizeistation oder direkt zu dem Kind nach Hause. Die Bandbreite der Fälle reicht vom Vater, der zugeschlagen hat, bis zum Kind, das tagelang nichts zu essen bekam und sich aus Mülltonnen ernährt hat.

Jeremias ist schon eine Weile in dem „Weißen Haus“ mit den hohen Fenstern, dem Spielraum und der großen Küche. Im Schnitt bleiben die Kinder aber nur ein paar Tage hier, bis eine Lösung gefunden ist. „Ziel ist immer, dass das Kind wieder in die Familie zurückkehren kann, wenn das möglich ist“, sagt Köhn. Die 25 Mitarbeiter leisten eine Art „Übersetzungsarbeit“: Sie vermitteln zwischen Eltern und Kindern, zeigen Probleme und mögliche Lösungswege auf. Der letzte Ausweg ist, dass ein Kind nicht mehr in die Familie zurückkehrt, sondern in eine betreute Einrichtung zieht.

Viel hat sich geändert, seit der Kindernotdienst vor 30 Jahren seine Arbeit aufnahm. „Die Probleme der Kinder waren damals dieselben wie heute. Aber die Situation hat sich geändert“, sagt die Sozialarbeiterin Susanne Brandsch-Böhm, seit 19 Jahren beim Kindernotdienst. An die Stelle der Kernfamilie Vater, Mutter, Kind sind viele alleinerziehende Mütter getreten, häufig sind sie überfordert mit ihren Kindern. Viele Berliner sind arbeitslos und haben existenzielle Ängste. Oder beide Elternteile arbeiten den ganzen Tag und sind nur selten zu Hause. „Die Kinder, die heute zu uns kommen, werden oft vernachlässigt. Sie sind total bedürftig und wollen einfach mal in den Arm genommen werden“, sagt Beate Köhn.

Sexuellen Missbrauch und Verwahrlosung gab es auch in den Siebzigern – doch damals wurden die Fälle häufig verschwiegen. Freunde, Nachbarn und Lehrer seien heute viel sensibler, beobachtet Köhn. Im vergangenen Jahr betreute der Kindernotdienst allein 954 Kinder auf seinem Gelände und beriet in 1590 Fällen. Kinderschutz müsste noch viel früher anfangen, sagt Köhn. Das Paket von Gesundheitssenatorin Katrin Lompscher mit Vorsorgeuntersuchungen und Früherkennung sei sinnvoll. Noch wichtiger wäre es aber, den Jugendämtern sofort unter die Arme zu greifen – mit Stellen für Sozialarbeiter. „Der Hilferuf der Ämter ist absolut berechtigt. Hausbesuche bei Müttern und Familien müssen flächendeckend nach jeder Geburt stattfinden“, sagt sie. Nur so könnten Kinder aufgefangen werden. Wer mit elf Jahren in das „Weiße Haus“ kommt, eine Kippe im Mund hat und sagt, dass er mit allen Erwachsenen durch ist, der hat schon eine lange Misere hinter sich“, sagt Köhn. Vielleicht wäre der Kindernotdienst als Kriseneinrichtung in der Stadt dann nicht mehr so nötig. Über dem Eltern-Kind-Zimmer hört man Getrampel und dann ein helles Lachen. Ein dunkles Poltern folgt, dann ist es still. Jeremias hat sich ausgetobt. Liva Haensel

Am Sonntag von 12 bis 18 Uhr feiert der Kindernotdienst in der Gitschiner Str. 48/49 ein Kinderfest. Weitere Infos unter www.kindernotdienst.de.

Liva Haensel

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