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Berlin: Beim „Poesiemobil“ darf jeder zum Dichter werden

Draußen drücken sich Passanten am Fenster die Nase platt, drinnen rotieren Waschmaschinen. Davor stehen, lehnen, sitzen Frauen mit Schreibblöcken: Das „Poesiemobil“ macht Station im „Waschcenter“ in der Friedenauer Hauptstraße.

Draußen drücken sich Passanten am Fenster die Nase platt, drinnen rotieren Waschmaschinen. Davor stehen, lehnen, sitzen Frauen mit Schreibblöcken: Das „Poesiemobil“ macht Station im „Waschcenter“ in der Friedenauer Hauptstraße.

„Wollüstig wird Werner wieder/ wenn werktags Wind weht/am Waschtag …“, schreibt eine der Frauen. Ehe man angefangen hat, darüber nachzudenken, was einem selbst zum Waschsalon einfällt, sind die sieben schon fertig mit ihren Kurzgedichten, einer Art Aufwärmtraining. Einmal pro Woche trifft sich das Poesiemobil an Orten, von denen sich die Schreiberinnen inspirieren lassen. Sie haben fabuliert im Kaufhaus und auf dem Friedhof, bei Ikea, im Planetarium, Oden an Sofas verfasst, Hymnen auf Tiere und Kaffeehäuser. „Ein kleines Café in dunkler Gasse/die Dame mit Hut nippt an der Tasse …“

Das Poesiemobil gibt es seit zwölf Jahren, seit Gisela Poppenberg, Poesiepädagogin, nach dem Studium an der Alice-Salomon-Fachhochschule einen Kurs im kreativen Schreiben bei der Fürst-Donnersmarck-Stiftung angeboten hat. Irgendwann löste sich der Kurs am festen Ort auf, das Schreibmobil gründete sich. Mitmachen kann jeder. Die Donnersmarck-Stiftung gibt nach wie vor Geld, weil auch Menschen mit Behinderung teilnehmen sollen. Denn das Jonglieren mit Wörtern öffnet Türen im Gehirn. „Während wir normalerweise nur zehn bis zwölf Prozent der Hirnkapazitäten in Anspruch nehmen, werden beim kreativen Schreiben 30 Prozent genutzt“, sagt Poppenberg. Der Trick sei, dass man sich in Personen oder Gegenstände hineinversetzt. „Das macht frei.“ Gerade bei Behinderten rege das zu neuen Fähigkeiten an. Psychologen haben entdeckt, dass das Schreiben auch der Seele guttut . Im Vorjahr hat die Salomon-Fachhochschule Deutschlands ersten Masterstudiengang im kreativen und biografischen Schreiben eingerichtet, in dem es um dessen therapeutischen Aspekt geht.

Dorothea Wenzel lässt auf ihrem Block ein verschwitztes Herrenunterhemd mit dem Weichspüler kämpfen. Die 70-Jährige hat über die Familienchronik zum Schreiben gefunden. Die Geschichten ihres Vaters wollte sie für Neffen und Nichten festhalten. Am Ende waren es 200 Seiten. Dann hörte sie vom Poesiemobil. Hätte sie gewusst, dass man da selbst schreiben soll, „wäre ich nicht hingegangen“. Nie hätte sie sich das zugetraut.

„Ich bin davon überzeugt, dass in einem mir unbekannten Land die verschwundenen Socken leben, die ihren Partner in der Waschmaschine verloren haben. Ich stelle mir vor, dass diese haufenweise dort vom Himmel regnen und unbeeindruckt vom Trennungsschmerz ihrer Partnersocke sofort eine neue Beziehung eingehen …“, schreibt Christina Kähne in „Sockenparadies“. Ihr Bürojob sei so trocken, sagt die 42-Jährige. Hier kann sie zeigen, was noch in ihr steckt.Claudia Keller

Das Poesiemobil trifft sich immer montags. Infos bei Gisela Poppenberg unter der Mail-Adresse denkbilder@arcor.de

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