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Berlin: Beim Schlipse des Proleten

Diesen Franz Biberkopf muss ich unbedingt spielen, sagte sich Heinrich George, nachdem er Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ gelesen hatte. Aber einen Regisseur und vor allem einen Produzenten zu finden, war dann gar nicht so einfach. Und man musste auch befürchten, dass die Nazis randalieren würden

BERLINER KINOLEGENDEN (6): BERLIN ALEXANDERPLATZ

Die Schupos kriegen als erste spitz, dass da etwas nicht stimmt. Ein Bauzaun am Alexanderplatz, frisch hingebaut zwischen Kaufhaus Tietz und Lehrervereinshaus, bemalt mit „Achtung, Baustelle“? Wo soll die um Himmels willen sein? Nicht vor dem Zaun und nicht dahinter. Dazu unentwegt diese Kraftwagen, ganz unüblich an einem Frühjahrsmorgen des Jahres 1931. Erst ein Packard, dem ein Dicker mit Zylinder entsteigt, später eine ganze Karawane mit verdächtigen Insassen. Man sollte einschreiten.

Das kann der Dicke, den die Schutzleute als Heinrich George identifizieren, noch verhindern. Lange geschieht nun erst einmal nichts, die Sonne will nicht scheinen. Als sie doch durchkommt, muss alles ganz schnell gehen. George schnappt sich den Zylinder und ein Sortiment Krawattenhalter, postiert sich vor dem Zaun, die Kamera, in einem nahen Haus am Fenster halb verborgen, läuft: „Nu uffjepasst, Damen wie Herren, warum soll der feine Mann Schlipse tragen, und der Prolet trägt keene? Ja, Damen wie Herren, weil er se nich binden kann – det wird jetzt allens anders mit meinem Original jarantiert patentierten Schlipshalter ,Trumpf‘.“ Rasch sammelt sich eine Menschenmenge, niemand erkennt George, die Filmleute sind begeistert. Fünf Stunden haben sie gewartet, fünf Minuten drehen sie, für 60 Sekunden Film.

Ein ungewöhnlicher Drehort, wie der die Szene schildernde Reporter der „Filmwoche“ bemerkte. Üblich war, gerade in den Anfängen des Tonfilms, das Atelier. Aber das konnte man bei einem Regisseur wie Phil Jutzi nicht erwarten, der schon für die proletarisch gesinnte Produktionsfirma Prometheus Straßenkämpfe aufnahm, in dem halb dokumentarischen „Hunger in Waldenburg“ das Elend der schlesischen Arbeiter zeigte oder für „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“ in die triste Welt der Weddinger Hinterhöfe hinabtauchte. Schon gar nicht war es bei der Verfilmung eines Buches wie Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ zu erwarten, diesem Kaleidoskop einer Metropole, voll widersprüchlicher, in Montagetechnik zusammengefügter Facetten, das noch immer als der deutsche Großstadtroman schlechthin gilt.

An einem „Roman im Kinostil“ hatte sich Döblin schon 1913/14 versucht, der Fragment blieb. Seinem „Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf“ aber, vom 8. September bis 11. Oktober 1929 in der „Frankfurter Zeitung“ abgedruckt und unmittelbar darauf bei S. Fischer erschienen, wurde von der Kritik übereinstimmend „filmisches Schreiben“ bescheinigt. So dauerte es nicht lange, bis man sich in der Kinobranche für den Stoff interessierte. Döblin selbst erzählte dem „Film-Kurier“ im August 1930 von einem Gespräch mit Emil Jannings, der, bevor er sich für den „Blauen Engel“ entschied, an die Rolle des Franz Biberkopf gedacht habe.

Als nächster wurde Ufa-Produzent Erich Pommer vorstellig. Am 23. September 1930 verzeichnete ein Ufa-Vorstandsprotokoll den Beschluss, „auf den Stoff eine Option bis Ende Januar 1931 zu nehmen“ – die aus unbekannten Gründen wieder fallen gelassen wurde, trotz „5000 RM Reugeld“. Parallele Überlegungen an der Berliner Volksbühne, den Roman zu adaptieren, lehnte Döblin ab. Er hielt ihn nicht für theatertauglich. Das Radio dagegen erschien ihm – wie der Film – mit seiner Struktur vereinbar, und so erstellte er für die „Berliner Funkstunde“ eine Hörspielfassung, die sich ganz auf die Hauptfigur konzentrierte. Am 30. September 1930 sollte die Sendung laufen, sie wurde aber kurzfristig aus dem Programm genommen, weil die Beteiligten das Hörspiel „noch nicht mikrophongeeignet“ fanden.

Noch immer existiert davon ein Plattensatz, mit Heinrich George als Sprecher des Franz Biberkopf. Der Schauspieler will den Roman allerdings erst Anfang 1931 gelesen haben, als er zu Dreharbeiten in den USA weilte, um einen Schwerverbrecher zu spielen. Sofort habe er gewusst: „Du musst diesen Menschen, diesen dramatisch noch ergreifenderen Kampf in der Freiheit, durcherleben und spielen.“ Auch behauptete er, deswegen ein Telegramm an Döblin aufgesetzt zu haben, „in einer Szene, in der ich in der Zelle zu kritzeln hatte“. Das wäre eine hübsche Anekdote, sie kann aber zeitlich so nicht stimmen.

Wie auch immer: Heinrich George war begeistert, setzte nach seiner Rückkehr alles in Bewegung, um erst Döblin zu gewinnen und dann einen Produzenten. Den fand er Ende 1930 in Arnold Preßburger von der Berliner Allianz-Tonfilm, die großen Filmgesellschaften hatten abgelehnt. Als Regisseur wurde Phil Jutzi verpflichtet, der als Kinoplakatmaler angefangen hatte, später zum Kameramann und Regisseur aufstieg, erst auf schlichte Unterhaltung spezialisiert, ab Mitte der zwanziger Jahre dann führend im proletarisch-realistischen Film.

Das Drehbuch verfasste Döblin gemeinsam mit dem darin erfahrenen Autor Hans Wilhelm. Als Biberkopfs Freundinnen Cilly und Mieze verpflichtete man Maria Bard und Margarete Schlegel, den skrupellosen Freund Reinhold spielte Bernhard Minetti. Am 7. Mai 1931 begannen in den Babelsberger Ateliers die Dreharbeiten, sie dauerten bis Ende Juni, mit Außenaufnahmen in Weinmeister- und Grenadierstraße, am Kurfürstendamm, im Grunewald und am Müggelsee, am Märchenbrunnen in Friedrichshain, in Friedrichswalde, am Berliner Polizeipräsidium in der Diercksenstraße und natürlich am Alexanderplatz.

Schon im Vorfeld der Dreharbeiten hatte man sich bei der Allianz-Tonfilm wegen der angespannten politischen Lage Sorgen gemacht. Nicht ohne Grund: Ende Juli meldete die „Berliner Tribüne“, die „nationale Opposition“ plane „Krawall gegen Alexanderplatz-Film“. Die befürchteten Ausschreitungen, wie sie noch im Dezember 1930 von Joseph Goebbels, Gauleiter der NSDAP in Berlin, gegen den Film „Im Westen nichts Neues“ inszeniert worden waren, blieben diesmal aber aus. Die mit Spannung erwartete Premiere am 8. Oktober 1931 verlief ohne Störungen, war sogar ein Triumph mit „stärkstem Beifall“, wie die „Licht-BildBühne“ meldete. Geistesgrößen wie Bertolt Brecht, Käthe Kollwitz, Lion Feuchtwanger, Heinrich und Thomas Mann, Walter Mehring und Arnold Zweig hatten sich im Capitol am Zoo eingefunden, einem der prächtigsten Lichtspieltheater der Stadt, von Hans Poelzig erbaut, das 1943 den Bomben zum Opfer fiel. Auch an den folgenden Tagen waren die Vorstellungen gut besucht, insgesamt erfüllte der Film aber nicht die in ihn gesetzten Erwartungen. Die Kritiker, darunter Siegfried Kracauer, Kurt Pinthus und Alfred Kantorowicz, hatten ohnehin überwiegend ablehnend reagiert. Phil Jutzis Arbeit falle hinter das Buch zurück, schildere Berlin unzureichend und setze zu sehr auf seinen Star. So sei, wie Herbert Ihering monierte, leider nur „der Film ,Heinrich George als Franz Biberkopf‘“ entstanden.

1933 musste Döblin Berlin verlassen, erst im Juli 1947 kehrte er zurück, besuchte auch den Alexanderplatz und das alte Kinoviertel um die Gedächtniskirche. Seine Eindrücke schilderte er in dem autobiografischen Buch „Schicksalsreise“: „Drüben gab es ein Kino. Ich finde den Platz nicht mehr; es brachte einmal die Premiere eines Films nach meinem ,Alexanderplatz‘. Auch der dicke Schauspieler, der damals die Hauptrolle spielte, existiert nicht mehr, im Osten gestorben. Nur ich bin noch da – und konstatiere alles.“

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