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Berlin: Belin Demirtas kann zwar nur im Traum fliegen, doch sie beschert seit langem zu Weihnachten Berliner Kinder

Normalerweise kann man Engel nicht erkennen. Engel sind unsichtbar, das weiß doch jeder, jedenfalls jeder, der schon ein bisschen größer ist.

Normalerweise kann man Engel nicht erkennen. Engel sind unsichtbar, das weiß doch jeder, jedenfalls jeder, der schon ein bisschen größer ist. Belin Demirtas hingegen ist als Engel schon von weitem erkennbar mit ihrem weißen, langen Kleid und ihren goldenen Flügeln. Da zweifeln sogar die ganz Kleinen manchmal, ob sie echt ist. "Ätsch, Du bist ja gar kein richtiger Engel", sagte letztens im Einkaufszentrum eine freche Dreijährige mit bunten Gummispangen im Haar. "Du kannst ja gar nicht fliegen." "Manchmal", hat Belin da geantwortet, "erstarren meine Flügel, wenn ich zur Erde komme. Aber wenn Du ganz fest dran glaubst, dann fliegen wir im Traum davon." Da verstummte das Kind.

Belin selbst ist vor 28 Jahren zur Welt gekommen, in der Nähe von Troja, am letzten europäischen Zipfel der Türkei. Ihre Mutter war erst 17 und arbeitete als Montiererin im fernen Berlin, der Vater, ein ehemaliger Offizier, schlug sich mit Jobs in der Gastronomie durch. Die Großeltern fanden Belins Mutter zu jung, um das Kind zu erziehen, also blieb es in der Türkei. Vier Jahre lang. Wenn im Sommer die Mutter kam, dann sagte die kleine Belin "Tante" zu ihr. Und wenn sie dann wieder gehen musste, wurde der Abschied schlimm und immer schlimmer, von Jahr zu Jahr. Also kam Belin mit nach Berlin.

Zwei Schwestern kamen zur Welt, dann trennten sich die Eltern. Heute wundert sich Belin manchmal, wie es die Mutter geschafft hat, drei Mädchen ganz allein aufzuziehen. Da war die Arbeit, die nicht leicht war, die Gänge zum Kindergarten und zurück, kochen, einkaufen, putzen. Und trotzdem war es eine schöne Kindheit.

Nachdem sie eine Weile in ihrem gelernten Beruf als Hotelfachfrau gearbeitet hatte, belegte Belin zunächst Betriebswirtschafts-Seminare an der Universität. Aber das war nicht das Richtige für sie, all die Studenten, die morgens mit dem aufgeschlagenen Wirtschaftsteil in der Vorlesung saßen, furchtbar. Eine Freundin erinnerte sie daran, dass sie doch eigentlich Kinder liebt und gern mit anderen Menschen zusammen ist. Also Erziehungswissenschaften.

Nun war sie schon auf dem besten Weg, ein Engel zu werden. Ihre Schwester, die ebenfalls studiert, war schon einer. Sie hatte im Weihnachtsmannbüro der Tusma einen netten Komilitonen aus der Türkei, Yunus, kennengelernt und ihn gefragt: "Willst Du mein Weihnachtsmann in der Begleitung sein?" Das klappte dann nicht, aber die beiden trafen sich wieder, und irgendwann war auch Belin einmal mit von der Partie. Sie verstand sich auf Anhieb mit Yunus.

Im folgenden Jahr wurde Belin selbst ein Engel. Im Second-Hand-Laden kaufte sie sich ein Brautkleid und beim Friseur Goldspray für ihre langen schwarzen Locken. Gemeinsam mit Yunus besuchte sie Heiligabend Berliner Kinder und bescherte sie. "Das Allerschönste", sagt sie, "sind die erwartungsfrohen Augen der Kinder." Sie lauschte Gedichten und Musikvorträgen, steckte Briefe ein mit Wünschen, aber auch mit Sehnsüchten. Einer war "an den Opa im Himmel" gerichtet und handelte davon, wie sehr ein Kind einen Menschen vermissen kann. Sie verteilte Lob und Ermahnungen, von letzteren aber nur eine pro Einsatz. Manchmal musste sie sich auch das Lachen verkneifen, wenn das Flötenspiel eines Dreijährigen ganz furchtbar daneben ging. "Wenn die ganze Familie lacht, und das Lachen fröhlich ist, darf man es auch herauslassen", sagt sie. "Hauptsache das Kind fühlt sich nicht ausgelacht." Auf der Fahrt von Haus zu Haus unterhielt sie sich mit ihrem Weihnachtsmann, mit Yunus. An diesem Abend wurde Liebe daraus.

Liebe ohne Ziel ist in der türkischen Kultur nicht vorgesehen, deshalb drängte die Mutter, die als Alleinerziehende ganz besonders auf die Familienehre bedacht war, auf eine schnelle Entscheidung. Im Juni schenkte sie der Tochter ein Brautkleid, und zwar ein ganz neues. Mitten im Sommer wurde aus Belin, dem Engel, auch noch eine glückliche Braut. Und als Yunus kurz nach dem Examen einen Job als Energie- und Verfahrenstechniker bekam, da sagte sie ihm: "Siehst Du, Du hast ja auch einen Engel an der Seite."

Oh ja, sie glaubt an Engel. Sie ist muslimisch erzogen, aber nicht übermäßig streng. Toleranz und die Freiheit der eigenen Entscheidung wurden in dem Frauenhaushalt immer groß geschrieben. Belin beachtet die Feiertage und kennt die Gebete. "Wenn man betet", glaubt sie, "und den Namen des Propheten und den Namen Gottes in den Mund nimmt, dann sind Engel im Raum. Man begrüßt die Engel ja auch. Den zur Rechten und den zur Linken." Belin, dem Kind, hat man gesagt: "Es gibt immer Engel, die passen auf Dich auf, auch, wenn man sie nicht sieht." Daran glaubt sie bis heute.

Das Leben eines Engels kann schrecklich sein. Zum Beispiel, wenn Belin im Tusma-Büro am Telefon sitzt und Anrufe entgegennimmt. Da sind dann die alleinerziehenden Eltern, die auf bestimmte Uhrzeiten angewiesen sind, "weil ich das Kind vom Vater erst um sechs Uhr zurück kriege." Das Schicksal dieser Kinder geht ihr ans Herz. Ihre Eltern haben sich zwar auch getrennt, aber sie haben eine klare Entscheidung getroffen und die Kinder nicht immer hin- und hergerissen.

Noch schrecklicher wird es, wenn die Anrufer "einen deutschen Weihnachtsmann" verlangen, "keinen schwarzen, keinen braunen, keinen gelben, sondern einen deutschen". Da muss sie dann manchmal das Gespräch kurz wegdrücken und drei Mal tief Luft holen. Alles, was Belin versprechen kann, ist ein deutschsprachiger Weihnachtsmann. "Kriegen Sie das nicht in den falschen Hals", sagen die Anrufer dann schon mal. "Wir sind sonst nicht so." Sonst nicht. Aber zu Weihnachten. Da soll es eben was Deutsches sein. Und möglichst dick und, wenn es geht, mit tiefer Stimme.

Dabei weiß doch jeder, dass der Weihnachtsmann am Nordpol wohnt und ziemlich international ist. Und ein Weihnachtsmann mit einem Engel an der Seite ist niemals aufgeschmissen. Wenn Yunus, der erst zum Studium nach Deutschland gekommen ist und die Sprache nicht akzentfrei spricht, bei der Bescherung ins Trudeln gerät, dann kann er sich fest darauf verlassen, dass Belin mit ihren fröhlichen braunen Augen und der unverkrampften, wachen Art die Regie übernimmt. Das wird sie auch heute tun, wenn sie noch einmal mit Yunus in der Nacht unterwegs ist.

Nach den Einsätzen sitzen die Engel und die Weihnachtsmänner noch ein bisschen im Büro zusammen, trinken ein Glas, knabbern Plätzchen und erzählen von den Kindern, die sie getroffen haben. Haben Engel denn auch Wünsche? Dass ihr eigenes Eheglück länger halten möge, als das der Mutter, wünscht sich Belin. Dass das Studium Fortschritte macht, dass eigene Kinder kommen. Das wäre schön, die dann zu bescheren.

Sie selbst hat als Kind immer Nikolausstiefel bekommen, da hat sich die Mutter nach den Gebräuchen im Kindergarten gerichtet. Weihnachten feiert sie zwar nicht, aber sie ruht sich doch aus. Dem Jahreswechsel sieht sie mit Gelassenheit entgegen. "Ich glaube nicht, dass was Schlimmes passiert." Ihr Traum: Eine eigene Pension in der Türkei, wo sie sich ganz um ihre Gäste kümmern und ihnen das Leben schön und einfach machen könnte.

Wenn Belin davon spricht, was sie alles für andere tun möchte, wirkt sie ganz wie ein richtiger Engel. Auch wenn sie, bislang, nur im Traum fliegen kann.

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