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Berlin: Berlin besteht den Elchtest

Eine Million Menschen drängten sich auf der Fanmeile im Tiergarten – zum Probejubeln fürs Viertelfinale Und nach dem Spiel ging die Siegesparty mit einem Autocorso auf dem Kurfürstendamm weiter

Egal wie es nun weitergeht – diesen WM-Rekord kann uns niemand mehr nehmen: Erstmals versammelten sich gestern zum Achtelfinalspiel Deutschland gegen Schweden rund eine Million Menschen auf der Fanmeile im Tiergarten und in der nahen Umgebung. Beim Spiel gegen Ekuador waren es immerhin 700 000 gewesen, doch nun, mit zusätzlicher Videowand, wurde die Strecke zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule zur lückenlos gefüllten Jubelmeile.

Danach wurde die Party gleich fortgesetzt. „Nichts läuft mehr“, hieß es noch nach 22 Uhr bei der Polizei zur Situation auf dem Kurfürstendamm, der populärsten Autocorso-Strecke der Stadt, die rasch gesperrt worden war. Alles stand dort, einige hundert Autos, dazu die Bürgersteige voller friedlich feiernder Menschen. Zwischen Wittenbergplatz und Kranzlereck ging die schwarz-rot-goldene Party bis in die Nachtstunden weiter, während jubelfreudige Aufofahrer auf die Lietzenburger Straße ausweichen mussten. Erstmals wurden nicht nur Flaggen, sondern auch goldene Fußballpokale in die Höhe gehalten – als wäre Deutschland schon Weltmeister.

Schon eine Stunde vor Spielbeginn hatte der WM-Führungsstab der Polizei angeordnet, dass alle Zugänge der Fanmeile wegen Überfüllung geschlossen werden sollten. Wer um 16 Uhr vor den Eingängen in der Schlange stand, wurde noch eingelassen, Neuankömmlinge jedoch schickte man weg. Zudem sicherten erstmals Polizisten den kilometerlangen Zaun um die Fanmeile, damit kein Fußballbegeisterter die Metallzäune übersteigen oder eindrücken konnte. Knapp 5000 Polizisten waren im Einsatz, einige Hundertschaften waren zur Unterstützung aus Sachsen-Anhalt gekommen.

„Relativ wenige Festnahmen“, hieß es am frühen Abend, überwiegend ging es um Diebstahl, Drogen oder Beleidigungen. Krawalle oder Schlägereien trübten nirgendwo den Freudentaumel. Auch das Deutsche Rote Kreuz hatte nicht allzu viel zu tun: Bei Spielschluss hatten nur 220 Personen Hilfe gesucht, überwiegend wegen Kreislaufproblemen.

Auch an den anderen Brennpunkten des stadtweiten Fußballfests war die Begeisterung riesig. Die knapp 10 000 Fans in der Adidas-Arena vor dem Reichstag hatten gleich zweierlei zu feiern: Erst die beiden Tore von Podolski – und in der Halbzeitpause die blonde Frau, die ihrem Freund und bekennenden Fußballfan per Mikrofon einen Heiratsantrag machte. Gleich nach seinem „Ja, ich will!“ begann die zweite Halbzeit. Der Lärm in der kompakten Arena mit den beiden Großbildschirmen erreichte bedenkliche Ausmaße. In all dem Gejohle krabbelte ein kleines Mädchen mit Watte in den Ohren unbekümmert auf dem Kunstrasen herum. Oben auf den Tribünen hielt eine Hand voll Schweden tapfer ihre Fahnen in das schwarz-rot-golden wogende Meer.

Nach dem Abpfiff mischten sich im Regierungsviertel die Bässe der Großpartys mit dem Trötenkonzert der Heimkehrer. Sie wirkten beinahe ein wenig erschöpft – als hätten sie ihren Jubelvorrat schon nach Podolskis frühen Treffern verbraucht. Die jüngst noch so zahlreichen Schweden waren kaum mehr zu sehen. Einer mit gelb-blauem T-Shirt entpuppte sich auf Nachfrage als Tourist aus Hamburg. „Meine Frau ist Schwedin“, erklärte er sein Outfit. Die sitze an der Alster vor dem Fernseher, während er mit einem Freund auf der Fanmeile gefeiert habe. Und? „Es war ja alles absolut friedlich, deshalb habe ich mich das gleich getraut“, sagt er. „Die Leute waren auch so nett zu mir.“ Der nächste Satz ging unter, weil ihm ein Deutscher durch eine Flüstertüte „Ihr könnt nach Hause fahr’n!“ ins Ohr sang. Der Hamburger grinste. Dass die Deutschen gewonnen hätten, sei in Ordnung, denn sie waren nun mal besser, sagt er. Um den Haussegen sorge er sich nicht.

Aus weiterer Entfernung erinnerte der fahnengeschmückte Zug auf dem Weg zum Bahnhof Friedrichstraße ein wenig an die Mai-Demonstrationen in der DDR. Nur war die Stimmung zweifellos besser. Das bestätigte auch ein Polizist, der mit seinem Motorrad die Luisenstraße sperrte und vom Spiel nichts mitbekommen hatte. „Bloß gut, dass die Deutschen gewonnen haben“, sagte er. Käme zu Hitze und Alkohol noch Frust hinzu, würde die Stimmung erfahrungsgemäß schnell aggressiv. Aber so wie an diesem Tag mache er gern Dienst, schwitze in seiner Motorradkluft und erkläre genervten Autofahrern, wie es weitergeht.

Die Menschenmassen zerstreuten sich in Richtung der umliegenden Bahnhöfe. Die S-Bahnwagen federten im Takt der Gesänge. Auf den Straßen der Innenstadt lag bergeweise Müll herum. Nur kein schwarz-rot-goldener: Die Fähnchen, Kränzchen und Irokesenperücken werden noch gebraucht.

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