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 Auch wenn es bei Harald Juhnke anders aussieht: Berliner Weiße war auch vor mehr als 25 Jahren kein Trendgetränk.

© imago/Gueffroy

Berlin, deine 90er Jahre: Zwischen großem Kater und großer Freiheit

Die 1990er Jahre prägen Berlin bis heute. Unser Autor über die ersten Jahre der deutschen Einheit, zwischen Protesten und dem Alles-ist-möglich-Gefühl.

Die Stimmung im Berlin der 1990er Jahre schäumte bisweilen wie die Weiße in Harald Juhnkes Bierglas: Ständig gab es Proteste, Demonstrationen, schrille Töne. Die äußere Einheit war zwar am 3. Oktober 1990 vollzogen worden, doch die innere ließ auf sich warten. Das zeigte sich auch in Liebesdingen, wie eine Meldung von damals verdeutlicht. West-Berliner – man achtete penibel auf den Bindestrich, denn „Westberlin“ war DDR- Schreibweise – heirateten fünf Mal häufiger „Ausländer“ als Bewohner aus dem Osten.

Die Menschen in den Westbezirken stöhnten, weil ihnen die Berlin-Zulage gestrichen wurde. Das war eine Art Durchhalteprämie für die Inselbewohner, für die früher in jeder Himmelsrichtung Osten war. Und der Osten war ein Jammertal, weil dort die Lebenshaltungskosten einen Raketenstart hinlegten, Löhne und Gehälter aber noch lange nicht das Westniveau erreichten.

Zehntausend bekamen neue Adressen, ohne umzuziehen

Im öffentlichen Dienst, bei der BVG, der Polizei und Feuerwehr machten Ost und West zwar denselben Job, aber die Bezahlung hing davon ab, wo jemand zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung wohnte. Außerdem fuhr der Bund seine finanzielle Unterstützung für die Stadt zurück. Eine Folge davon war, dass der klamme Senat unter großen Protesten 1993 das berühmte Schiller-Theater schloss – eine Trauma, das bis heute nicht nur in der Kulturszene nachwirkt.

Währenddessen erhielten zehntausende Bewohner in den Ostbezirken neue Adressen, ohne umgezogen zu sein. Eine Historikerkommission guckte sich die Straßennamen in der früheren DDR-Hauptstadt an und strich alle Persönlichkeiten mit mehr oder minder kommunistischer Vergangenheit. Aber auch Bahnhofsnamen traf es, allerdings aus anderen Gründen. Weil der damalige CDU-Verkehrssenator die Leute für doof hielt, sollte aus dem vertrauten „Frankfurter Tor“ das „Rathaus Friedrichshain“ werden – wegen Verwechslungsgefahr mit der „Frankfurter Allee“. Allerdings zog das Rathaus fort, und es folgte die Rückbenennung und eine abermalige Umbenennung in „Petersburger Straße“. Noch im selben Jahr besann man sich eines Besseren, und das Frankfurter Tor kehrte aufs Schild zurück.

Bei allem Ächzen und Stöhnen waren die Neunziger aber auch Alles-ist-möglich-Jahre, in denen der oft bemühte Berlin-Mythos geboren wurde. Künstler besetzten die Ruine eines Kaufhauses an der Oranienburger Straße und nannten es Tacheles, findige Wirte stellten Möbel vom Sperrmüll in leer stehende Läden und verkauften Flaschenbier im „Obst und Gemüse“ oder „Wohnzimmer“. Dazu war immer irgendwo Party in einem illegalen Club, ob es ein Keller, Bunker oder eine unterirdische Toilettenanlage am Potsdamer Platz war.

Berlin, ein großartiges Sommermärchen

Konnte man hier die ersten Jahre nach dem Mauerfall noch durch hüfthohes Gras über den früheren Grenzstreifen stapfen, taten sich schon 1994 die Baugruben der damals größten Baustelle Europas auf. Berlin wurde dort bald sogar verrückt: Die denkmalgeschützten Reste des Grandhotels Esplanade wanderten auf einem Luftpolster 75 Meter beiseite. Baukräne tanzten 1996 Ballett, dirigiert von Staatsoper-Maestro Daniel Barenboim. Ein Jahr zuvor hatte das Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude bereits den Reichstag in silberne Stoffbahnen verpackt, pardon, verhüllt.

Die Stadt erlebte das, was ganz Deutschland erst Jahre später bei der Fußball-WM 2006 be- und verzaubern sollte: ein großartiges Sommermärchen. Berlin bleibt doch Berlin, da kannste nischt dran ändern, heißt es trotzig in einem Lied aus der Nachkriegszeit – vor beinahe 25 Jahren zeigte sich, dass das ein Riesenirrtum war.

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