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Berlin im Frühling: "Das ist die geilste Stadt der Welt."

Streit über Bausünden, über Müll, über Radler – selten sind Berliner und Touristen im vollen Einklang mit der Stadt. Doch wenn der Frühling sein blaues Band wehen lässt, scheint alles vergessen. Was meinen Sie, liebe Leserinnen, liebe Leser, ist Berlin schön?

Zugegeben, die Versuchsanordnung ist verfälscht oder besser: beeinflusst. Beeinflusst durch die Sonne, beeinflusst durch das Grün, beeinflusst durch eine Berliner Luft in Bestform. Wer an einem solchen Tag durch die Stadt geht, sieht strahlende Gesichter. Trotzdem: Kann die Kritik an Stadtplanung und -pflege verstummen, weil die Kirschbäume blühen? Ist Berlin schön, nur weil die Sonne scheint?

Station 1: Hauptbahnhof

Wir fragen zuerst die Auswärtigen. Am Hauptbahnhof kommen sie an, und hier fahren die, die Berlin besucht haben, auch wieder ab. Familie Rau aus Neustadt an der Weinstraße war für einen Kurzbesuch in der Stadt – und ist hoch zufrieden. „Wir waren vor allem in Mitte unterwegs, auf den Spuren von ,Emil und den Detektiven’“, berichtet Mutter Luidgard. Dass das Berlin Erich Kästners in der kernsanierten Innenstadt kaum noch zu finden ist, hat die Raus nicht gestört: „Das gehört zu einer Weltstadt“, sagt Luidgard Rau – und etabliert damit den Refrain dieser Recherche. Ihn rezitieren auch Monika und Heinzkarl Gaidzik, während sie von der Fußgängerbrücke am Washingtonplatz – die Sonne im Rücken – spreeabwärts blicken. Zehnmal war das Osnabrücker Ehepaar schon in Berlin, nun sind sie gerade angekommen, um heute Abend „das Lindenberg-Musical“ zu sehen. Kritik an der Stadtplanung kommt nur bei genauer Blicklenkung auf. „Wie bitte, der hässliche Kasten da ist neu?“ fragt Monika Gaidzik mit Blick auf das Meininger Hotel vor dem Hauptbahnhof. „Das ist ja wohl ein schlechter Witz“, ergänzt der Gatte, sagt aber gleich: „Alles in allem können die Berliner stolz sein auf ihre Stadt.“ Mit diesem Fazit geht es weiter ins Regierungsviertel, wo weitere echte oder vermeintliche Bausünden auf bestens gelaunte Frühlingsmenschen treffen.

Station 2: Platz der Republik

„Dieses Kanzleramt…“, „Nein, dieses Kanzleramt…“, „Also unbedingt schön ist dieses Kanzleramt ja nicht!“ Die Menschen auf dem „Platz der Republik“ haben den Feind des guten Geschmacks schnell ausgemacht – aus der Fassung bringen lässt sich davon zwischen dem Grün des Rasens und dem Blau des Himmels aber keiner, nicht einmal die wenigen Berliner. „In 20 oder 30 Jahren sind die Bausünden Baudenkmäler“, weissagt Danny Kühler aus Weißensee. „Wer über Berlin schimpft, hat noch nichts Anderes gesehen. Oder er ist zu faul, sich in seiner eigenen Stadt zu bewegen. Berlin bietet alles, man muss nur hinfahren.“ A propos fahren, da fällt Kühler dann doch noch ein Kritikpunkt ein: „Was hier nervt, sind die vielen Straßenbaustellen.“ Mit diesem Schlusswort geht es vorbei an diversen Baustellen in Richtung Kreuzberg.

Station 3: Urbanhafen

Wer sehen will, wie sich Berlin im Frühling verändert, muss öfter hierher kommen. Aus Braun wird Grün, aus dem kargen Uferstreifen vor dem Urban-Krankenhaus eine Liegewiese. Trotzdem finden wir hier auf einer Bank am Weg die erste wahre Kritikerin der Stadt. Antje Bogdanski ist derzeit Patientin „im Urban“, eigentlich kommt sie aus Tempelhof: „Der Dreck nervt schon“, sagt sie, während ein BSR-Reinigungsmobil vorbeifährt. Ansonsten ist aber auch sie zufrieden: „Dafür sind wir Großstadt, dass sich hier Dinge verändern, es manchmal laut und hässlich ist.“ Eine Bank und zwei Generationen weiter der gleiche Tenor: „Im Winter ist es manchmal etwas grau. Aber sonst…“, sagt FU-Studentin Marie und blickt übers Wasser, in Richtung der grünen Pracht am anderen Ufer. Unmut, Überdruss – auch hier Fehlanzeige. Auf zum letzten Versuch.

Station 4: Hermannplatz

Hier ist es laut, hier ist es schmutzig, hier kann auch der Frühling nichts ausrichten, den wenigen kümmerlichen Bäumen um den Platz zum Trotz. Wenn sich irgendwo Kritik an Berlins Reizen vernehmen lässt, dann ja wohl hier. Doch Fehlanzeige: „Zur Großstadt gehören Spannungen – und spannend isses“, sagt der Lichtenberger Michael König, der seine Tochter in Neukölln besucht. „Wer eine beschauliche Kleinstadt haben will, kann ja dahin ziehen.“ Auch Hans-Werner Vogelsang, der in den Siebzigern aus einer solchen nach Berlin kam, lässt auf die Stadt nichts kommen: „Hässlich? Das hier ist die geilste Stadt der Welt!“ poltert Vogelsang und streicht sein „Ich bin nicht alt, ich bin ein Klassiker“-T-Shirt glatt. In Berlin gebe es „Gangster, Schickmickis, Proleten, einfach alles“. „Ich mag’s hier in Neukölln, mein Schwager steht nachts auf dem Potsdamer Platz und findet’s geil – es wird halt für jeden was geboten.“ Ob er sich vorstellen könne, hier nochmal wegzugehen? „Nein“, sagt Vogelsang – und gießt das positive Stimmungsbild des Sonnentages in einen Schlussmonolog: „Ich habe hier alles gefunden: Frau, Kiez, Arbeit. Für mich gibt’s kein Zurück. Warum auch?“

Und was meinen Sie, liebe Leserinnen, liebe Leser? Ist Berlin wirklich schön? Oder doch nicht eher hässlich? Kommentieren und diskutieren Sie mit! Bitte nutzen Sie dazu die einfach zu bedienende Kommentarfunktion etwas weiter unten auf dieser Seite.

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