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Jetzt geht's los: Berlin erwacht.

© Getty Images/iStockphoto

Berlin im Morgengrauen: Schwarz zu blau – wenn erster Kaffee auf letztes Bier trifft

Ein Förster will ein Wildschwein erlegen, ein Radiomoderator ist bereits bester Laune, und im „Bierbaum 1“ suchen junge Leute ihr letztes Geld: eine Reise durch Berlin, morgens zwischen fünf und sechs. Unsere Blendle-Empfehlung.

Berlin, bei dir ist immer Musike. Nie stehste still. Nie schläfste. Deine Bude ist immer voll, immer ist Party und immer führst du deine täglichen Dramen auf: 105 Geburten, 94 Tote, 18 Scheidungen, 1650 Straftaten und 377 Verkehrsunfälle. Tagein. Tagaus. Von morgens bis abends. Im ewigen Berliner Kreislauf. Immer hektisch, immer atemlos, immer gleich. Oder?

Es gibt einen Zeitpunkt, eine Stunde, einen Moment geschäftiger Stille, da wechselt das Bühnenpersonal der Stadt. Es ist die Zeit, in der die Nacht langsam vergeht, der Tag sich müde erhebt, in der – nicht zu jeder Jahreszeit wortwörtlich, aber immer gefühlt – „Schwarz zu blau“ wird, wovon schon Peter Fox sang: „Guten Morgen Berlin, du kannst so schön hässlich sein, so grässlich und grau...“ 2009 war das.

Berlin. Morgens. Zwischen fünf und sechs.

Das ist, wenn der erste Kaffee auf das letzte Bier und das erste Croissant auf den letzten Döner trifft. Wenn der Blaumann neben der Partyleiche auf den Bus wartet. Wenn die Beats aus den Keller-Clubs auf die nassen Bürgersteige fallen und in den Pfützen ertrinken. Wenn Herrchen mit der Jacke über dem Schlafanzug vom Hund nach draußen in die Dunkelheit gezerrt wird, an den Zaun, wo sich noch kurz zuvor ein Nachtschwärmer erleichtert hat. Pinkel-Time.

Morgens zwischen fünf und sechs: Drei Polizisten der Wache 23 in Spandau fahren auf die letzte Streife ihrer Nachtschicht. Förster Andreas Constien sucht mit Wärmebildkamera und Jagdgewehr nach Grunewalder Wildschweinen. Die Morgenshows der Radiostationen verteilen ihre gute Laune über die Stadt. Bäcker füllen riesige Teigmassen in Brotformen und Konditoren übergießen Mandelkuchen mit Honig. Und Peter öffnet seine Augen.

Der Obdachlose

Genauer gesagt: Peter versucht, seine Augen zu öffnen. Sie kleben und grienen an den Ecken. Hier, Peter, ein Kaffee! Peter streckt sich. Peter grummelt. Peter ist wach und schaut missmutig in die stille Dunkelheit. Dann piept seine Armbanduhr. Fünf Uhr. Peter muss aufstehen. In Bewegung bleiben. Hauseingänge wie der an der Karl-Marx-Straße in Neukölln sind für ein paar Stunden gut, doch ab fünf Uhr erwacht die Stadt. Also muss auch Peter los, bevor es Ärger gibt, bevor ihn jemand entdeckt. „Unsichtbar bleiben, das kann der Peter gut“, sagt Peter über Peter. Er nimmt den Kaffee, hängt seine Nase rein, zieht eine Pulle Goldbrand aus der Jacke, kippt einen Schluck davon in den Becher, schlürft, verzieht das Gesicht und lächelt.

Peter ist einer von geschätzten 3000 bis 6000 Obdachlosen in Berlin. Nachts, wenn die Straßen leerer sind, fallen sie noch einmal mehr auf. Einer sitzt in seinen Rollstuhl gekauert auf dem Hermannplatz, ein anderer schläft auf einer Bank an der Frankfurter Allee. Ein anderer hat sich ein Matratzenlager unter einer S-Bahnbrücke zwischen den Bahnhöfen Neukölln und Sonnenallee gebaut. Andere haben Zelte aufgestellt, überall da, wo Berlin noch ein paar Lücken lässt für die Menschen, die nur noch in diese Lücken passen.

„Peter kann nicht drinnen schlafen“, sagt Peter, er mag keine geschlossenen Räume, er muss unterwegs sein, er will den Himmel sehen. „Der Peter ist noch ein alter Treber, auf der Suche und unterwegs“, sagt er. Alt? Er überlegt: „45, 46, 47 – weiß nicht genau.“ Peter packt seine Isomatte, seinen Schlafsack, stopft alles in den Rucksack. Peter, warum so eilig? Na, Peter muss sich doch aufwärmen, in der U-Bahn. Und verschwindet zwischen den Spiegelbildern der Straßenlaternen, Reklamen und Scheinwerfer auf dem Asphalt, ein erster Lichtblick in der Fünf-Uhr-Dunkelheit des neuen Tages.

Die Partymeile

An der Warschauer Brücke hat dieser Tag noch nichts zu suchen. Hier herrscht so kurz vor dem Wochenende noch die Nacht mit ihren unendlichen Versprechen: Rausch und Spaß, Lust und Verlangen. Beats rumsen durch die Wände und Fenster der Clubs auf dem RAW-Gelände. Dealer stehen in den Ecken und verkaufen dosiertes Glück. Der Eintritt an den Club-Türen kostet 10, 13 und 15 Euro, als wäre die Nacht noch lang. Da hilft auch kein Diskutieren mit den Türstehern, denn immer noch ist sie lang, die Schlange derer, die etwas erleben und auf gar keinen Fall Schluss machen wollen. Wie die junge Frau, die jetzt von einer Freundin aus der Hitze des Clubs in die Kälte und Nässe gezogen wird: „Nein, ich will noch bleiben“, ruft sie. „Ich rufe dir ein Taxi“, sagt die andere und zerrt ihre Freundin weiter, raus zur Straße, wo die Taxis stehen.

Eine alte Frau mit Kopftuch schiebt ihr Fahrrad an der Szenerie vorbei, an den Lenkern hängen Jutebeutel voller Pfandflaschen. Was die jungen Leute da treiben, interessiert sie offenkundig nicht. Ihr Blick folgt dem Lichtkegel ihrer Taschenlampe, der hin und her zuckt, auf den Boden, in die Ecken, zu den Mülleimern. Elisabeth heißt sie, und das ist ihr Job. „Morgens ist die Konkurrenz nicht so groß“, sagt sie. „Man muss nur wissen, wo es sich lohnt zu sammeln.“ Seit drei Uhr ist sie unterwegs, solange, bis die ersten Supermärkte öffnen. In ihren Tüten hat sie einen Flaschenwert von 7,20 Euro, sie rechnet immer gleich mit. „Kein Mitleid, es ist, wie es ist, und es ist in Ordnung.“

Im Radio

U-Bahnhof Warschauer Straße, Kiosk, die Kaffeemaschine spuckt Cappuccino für einen Blaumann aus, den Zollstock in der Beintasche, die Schuhe mit Farbe bekleckst, sein Gesicht noch grau. Für ihn beginnt der Tag, und der Sound dazu scheppert aus den Kiosk-Boxen. Es sind die megafröhlichen Ansagen der megafröhlichen Morgenshow-Moderatoren. Morgens um fünf legen sie los. Ob Radio 1, Energy, 88.8 oder BB Radio. Ab dann ist Gute-Laune-Zeit.

Was da an der Warschauer Straße aus dem Äther kommt, wird im Studio des BB-Radios in der Medienstadt Babelsberg produziert, wo gerade die letzten Nachrichtensekunden laufen. Marcus Kaiser hebt die Hand. Hochkonzentriert. Gleich sind er und seine Kollegen Maria und Benni auf Sendung.

3,2,1.

„GUTEN MORGEN.“

„LOS, LOS, RAUS AUS DEN BETTEN.“

„ZEIT, AUFZUSTEHEN!!!“

Den vollständigen Text lesen Sie am Sonnabend, 12. November 2016, auf den Mehr-Berlin-Seiten im gedruckten Tagesspiegel oder im Online-Kiosk Blendle.

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