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Die Hochrechnungen der Wahl in Berlin.

© dpa

Berlin-Lichtenberg: AfD-Kandidat holt Direktmandat

Die AfD hat viel versprochen, hier in Lichtenberg. Und wird mit einem Direktmandat belohnt. Eine Spurensuche im Bezirk.

Friedrichsfelde, hinterm Eingang zur Kleingartenkolonie „Märkische Aue“: Zwei Frauen im Sonntagsstaat stehen auf dem Weg zwischen Hainbuchen- und Thujenhecken und unterhalten sich. „Wir gehen sonst unter“, sagt die eine. Die andere antwortet: „Da sind wir noch nicht. Deutschland steht noch gut da.“

Es ist ein Gespräch über Politik und Wahlentscheidungen, und wer nach den beiden Sätzen weitergeht, kann sich folgenden Reim darauf machen: Eine von beiden könnte der AfD anhängen. Aber welche? Es ist die gegenwärtige Fronthaltung – in ihrer freundlichen Variante, im Gespräch –, die hier zu Tage tritt: die AfD auf der einen Seite, die Alt-Parteien, angeblich gleichförmig allesamt, auf der anderen.

Einige Schritte weiter finden sich noch Spuren einer handfesteren Auseinandersetzung. Die weiße Giebelseite des Gartenlokals „Märkische Aue“ hat blassrote Farbspritzer überm Eingang. Ein paar Tage alt sind sie und offenbar eine Reaktion darauf, dass sich hier monatelang ein AfD-Stammtisch traf.

An diesem Sonntagnachmittag sind nur wenige Gäste da. Sie sitzen, draußen, unter hohen Bäumen, trinken Bier und essen Schnitzel. Der Blick geht auf die Kleingärten und Nachkriegs-Siedlungsbauten, und hinter all dem Grün reckt sich ein Wohnhochhaus in die Höhe.

Friedrichsfelde, Berliner Ortsteil im Bezirk Lichtenberg, gilt als Plattenbau-Museum. Wohl nirgendwo im Osten finden sich so viele der in der DDR gebauten Häusertypen auf einem Fleck wie hier. Hinweistafeln im Viertel erklären sie. Die Linken sind traditionell stark hier, aber eben auch die AfD ist präsent.

Eine merkwürdige Ermattung liegt über der ganzen Gegend

Und wie. Aus dem Wahlkreis Lichtenberg 1, im Norden des Großbezirks in Wartenberg, kommt am Wahlabend, um kurz vor neun Uhr, zum ersten Mal die Nachricht, dass die AfD ein Direktmandat geholt hat. 26 Prozent der Wähler haben Kay Nerstheimer ihre Stimme gegeben, damit liegt er vor der Kandidatin der Linkspartei, Ines Schmidt, für die 25 Prozent stimmten. Der CDU-Politiker Danny Freymark, der seit 2011 im Abgeordnetenhaus sitzt, konnte 21 Prozent der Wähler von sich überzeugen. Sogar für AfD-Verhältnisse steht Nerstheimer ganz weit rechts außen. Seine Wähler hat das nicht abgeschreckt.

Doch es gibt auch Protest gegen die Rechtspopulisten. Im vergangenen Jahr, da trafen sich Aktivisten der Partei noch im nahegelegenen Lokal „Zum Bären“, tauchten Flugblätter auf, die die Nachbarn darüber in Kenntnis setzten, wer hier regelmäßig zusammenkam. Auch hier ist es an diesem Sonntag weitgehend leer, eine merkwürdige Ermattung liegt über der ganzen Gegend. Vielleicht kommt sie vom Schlangestehen vor den Wahllokalen. Eine der wenigen öffentlichen Einrichtungen Berlins, vor der sich keine Schlangen bilden, ist der Tierpark, der gegenüber liegt. Selbst der Schwarzbär, der neben dem Eingang sein Gehege hat, wirkt müde. Langsam trottet er hinter der Bärenschaufensterscheibe auf und ab.

Die Straße am Tierpark rauf nach Norden, vorbei am „Treffpunkt am Tierpark“, in dem ein Verlorener vor einem Daddelautomaten sitzt, nach dem Dönerladen rechts in die Alfred-Kowalke-Straße. Wer vorm Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung landet, ist schon zu weit. Kurz davor befindet sich die unauffällige Lichtenberger Zentrale der Linken. Drinnen stehen zwei rote Kunstledersofas und viele rot bezogene Stühle. Ein Kasten Bier, einige Flaschen Wein, Wasser, ein Beamer. Hier läuft die Wahlparty.

Den Leuten das Blaue vom Himmel versprechen

Evrim Sommer, im roten Kostüm, ist auch da. Sommer ist Abgeordnete im Landesparlament und Lichtenberger Bezirksbürgermeisterkandidatin. Es ist kurz nach fünf, sie hat gerade die ersten, internen Vorprognosen gehört, sie ist gelassen. Wie lautet ihre eigene, für ihren Bezirk: „Wir werden die stärkste Partei hier. Und dann werden wir alle demokratischen Parteien bitten, mit uns Sondierungsgespräche zu führen.“ Während der Auszählungen werden dann die Linke und die AfD so stark, dass die bisherige Zählgemeinschaft aus SPD, CDU und Grünen wohl keine Mehrheit mehr hat. Eine Zählgemeinschaft, nach der vergangenen Wahl zustande gekommen mit dem gemeinsamen Ziel, einen Politiker der Linkspartei auf dem Bürgermeisterstuhl zu verhindern. „So was“, sagt Evrim Sommer, „führt bei den Wählern zu Unzufriedenheit. Und zu Auftrieb für die AfD.“

Seitdem, sagt Sommer, ist es zum Beispiel mit den vergleichsweise mutigen Bürgerbeteiligungsmodellen im Bezirk bergab gegangen.„Und dann“, sagt Silke Mock, Lichtenberger Linke, „kommt jemand und verspricht den Leuten das Blaue vom Himmel“. Das sei die AfD. „Die den sozialen Wohnungsbau abschaffen will, den Mindestlohn.“ Sie wird auch im vergleichsweise armen Lichtenberg gewählt.

Ein paar Minuten zu Fuß vom Tierparkeingang hat einmal der Dichter Heiner Müller gewohnt. Eine Metalltafel an seinem einstigen Hauseingang weist darauf hin, und darauf, dass er der „bedeutendste Theaterautor der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ gewesen sei. Von Müller stammt der Satz: „Zehn Deutsche sind dümmer als fünf Deutsche.“ Er ist zweieinhalb Jahrzehnte alt, gemein und war gemünzt auf die Wiedervereinigung. Der Satz passt – in Heiner Müllers sehr undemokratischen Sinne – auch auf die hohe Wahlbeteiligung an diesem Sonntag.

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