zum Hauptinhalt
Die zwei aus der Kantine. Franziska Muche und Stefan Kreißig organisieren Lesungen in Wedding.

© Mike Wolff

Berlin-Wedding: Lesungen zwischen Einhorn-Fleisch und Suppe

Appetit aufs Spielen: In der alten Kantine in Wedding tragen Schauspieler Texte vor, die sie nicht kennen. Das Publikum darf Anweisungen geben. Und etwas zu essen gibt es dort auch.

Der Vorschlag kam aus dem Publikum. Da hatte der Schauspieler gerade einen großen Monolog gehalten und seiner toten Jugendliebe nachgetrauert. Jetzt, schlug der Zuschauer vor, solle er den Text wiederholen. Dieses Mal aber so: „Als ob du das total geil fändest, dass sie tot ist“, sagt Franziska Muche, als sie von dem Abend erzählt. Sie ist Mitveranstalterin und -gründerin der Ambigú-Lesereihe in der Alten Kantine Wedding. Die Idee ist: Schauspieler lesen zeitgenössische internationale Theaterstücke - und zwar als „Kaltstartlesung“. Das heißt, sie lesen die Texte bei der Aufführung zum allerersten Mal. Eine weitere Besonderheit sind die Spielkarten, mit denen das Publikum, der Spielleiter und die Schauspieler in die Lesung eingreifen können.

Einmal im Monat finden auf dem alten BVG-Gelände in Gesundbrunnen die Lesungen statt. Gefunden haben sich die Macher über die Arbeitsplätze, die dort in der ehemaligen BVG-Kantine an Selbstständige vermietet werden. Über den Trägerverein Teatris finden sich vor allem Theaterleute, so wie Franziska Muche, 38, die als Dramaturgin und Übersetzerin für Theaterstücke arbeitet. Die Lesungen sieht sie als Möglichkeit, Stücke überhaupt zur Aufführung zu bringen. Denn als Übersetzerin kennt sie das Problem: „Sachen für die Schublade zu schreiben und zu übersetzen, ist frustrierend.“

Deshalb trägt ihre Reihe „Ambigú“ – ein veralteter spanischer Begriff für Theaterkantine – auch den Untertitel „Der Appetit kommt beim Spielen“. Sie soll Lust auf zeitgenössische, internationale Dramatik machen. Das Konzept der Kaltstartlesung habe dabei auch pragmatische Gründe, erklärt Franziska Muche. „Wir können die Schauspieler nicht bezahlen, wollen sie aber auch nicht ausbeuten.“ So haben die Freiwilligen null Vorbereitungszeit und investieren lediglich den einen Abend in die Lesung. „Und wir haben alle was davon“, schwärmt Stefan Kreißig.

"Einhorn-Fleisch" in der Dose

Der 37-jährige Schauspieler und Regisseur war bei der ersten Lesung als Schauspieler engagiert. Mittlerweile ist er im Organisationsteam dabei, als „Mädchen für alles“, wie er sagt. Kreißig ist außerdem ausgebildeter Koch und sorgt bei den Ambigú-Lesungen für echte Nahrung: Es gibt jedes Mal eine Suppe für die Zuschauer zu löffeln. Die Lesungen sollen nicht in steriler Theater-Atmosphäre stattfinden, sondern lebendig sein. In der Alten Kantine Wedding sollen weitere regelmäßige Veranstaltungstermine wie Ambigú hinzukommen – etwa die „Fiction Canteen“ mit Workshops für Autoren und Übersetzer oder „Krautfilm“, wo Berliner Filmschaffende ihre Werke zeigen können. Platz ist genug vor der alten Essensausgabe, deren Auslage jetzt kreativ dekoriert ist, etwa mit „Einhorn-Fleisch“ in der Dose und bunten Tierfigürchen.

Im kleinen, überwucherten Innenhof der Kantine liegt ein Stapel mit den Spielanweisungen auf weißen Karten neben Franziska Muche auf dem Gartentisch. Daneben steht ihr Computer – sie ist gerade über Skype mit einem Autor verbunden, dessen Stück als nächstes auf dem Spielplan steht. Gustave Akakpo hat das Stück „Die Aleppo-Beule“ geschrieben. Jetzt sieht und spricht Muche ihn zum ersten Mal. Akakpo befindet sich gerade in Paris, soll aber nach der Lesung ebenfalls per Skype zugeschaltet werden und Fragen zum Stück beantworten.

Haltungswechsel, Dynamik, Verkehrte Welt

Jetzt erklärt Muche ihm noch einmal das Konzept und zeigt ihm einige der Karten. Zum Beispiel der „Haltungswechsel“: Die Schauspieler lesen eine Szene mit einer anderen Haltung noch einmal - wie damals, mit der toten Jugendliebe. Oder die „Dynamik“-Karte: Die Schauspieler erhöhen oder senken das Lesetempo. „Verkehrte Welt“ heißt: Ein Teil einer Szene wird wiederholt, wobei aus Aussagesätzen Fragesätze werden und umgekehrt. Es gehe darum, den Text zu untersuchen, sagt Muche. „Durch die Karten merkt man, wie ein Text vielfältige Interpretationen zulässt.“

Im Anschluss an die Lesung findet jedes Mal ein Gespräch mit dem Autor statt – per Skype oder persönlich. Autor Gustave Akakpo sagt, er möchte gerne schon vorher zugeschaltet sein und die Lesung verfolgen. Zwar wird er die deutsche Übersetzung nicht verstehen, doch allein der Tonfall und die Gesten der Schauspieler werden interessant für ihn sein, sagt er. Er möchte dabei sein, wenn sein Stück untersucht und von Schauspielern und Zuschauern seziert wird.

Die nächste Ambigú-Kaltstartlesung findet am Donnerstag, 25. September, ab 19.30 Uhr in der Alten Kantine Wedding statt, Uferstr. 8-11, Gesundbrunnen. Der Eintritt kostet 8, ermäßigt 5 Euro. www.ambigu.info

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false