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Berliner Klassenlotterie: Wer kommt auf eine gute Schule?

Heute läuft in Berlin die Anmeldefrist für die Oberschulen ab. Alles, was jetzt zählt, sind gute Noten. Und in der Stadt tobt ein Elternkrieg.

Dies ist die Geschichte von 29.000 Berliner Sechstklässlern, ihren Eltern und einem Wunsch. Alle wollen die beste Oberschule finden. Aber wenn sie sich für eine entschieden haben, kann alles ganz anders kommen. Die Wunschschule ist in diesem Jahr eine Art Lottogewinn. Wer gewinnt, das weiß man nicht.

Melanie Brüggemann, eine Frau von tadellosem Äußeren, ist nervös. Seit Monaten schon. Denn bis zum heutigen Freitag muss sie sich wie alle festgelegt haben, jetzt endet die Anmeldefrist. So steht die Anwaltsgehilfin auch an einem frühen Nachmittag im Februar angespannt vor einer ruhig gelegenen Grundschule in Charlottenburg und wartet auf ihre Tochter Isabella. Hier im bürgerlichen Kiez, grün und behütet, diskutieren die wartenden Mütter seit Wochen nur über ein Thema: die Wahl der richtigen Oberschule.

„Und“, fragt eine Frau, „wie habt ihr euch entschieden?“

Sich entscheiden müssen. In allen Bezirken, insbesondere aber in den bürgerlichen Milieus, sind Nervosität und Verunsicherung eingezogen in das Familienleben. Früher kamen Kinder einfach auf eine Schule. Das lief, mehr oder weniger, automatisch ab. Heute sind es die Eltern, die ihren Kindern eine Schule suchen. Und die Schulen suchen sich die besten Kinder aus.

Zum ersten Mal nach der Schulreform, bei der die Hauptschule abgeschafft wurde und nur noch Gymnasien und Sekundarschulen zur Auswahl stehen, wird ein neues Anmeldeverfahren angewandt. Bisher galt: Wer am nächsten an der gewünschten Schule wohnte, hatte einen Platz sicher. Sicher scheint jetzt jedoch gar nichts mehr.

Bei Familie Brüggemann, Vater, Mutter, zwei Töchter, vergeht kein Tag, an dem sie nicht beisammen sitzen und über das Thema reden. Um ihre Töchter auf die besten Schulen schicken zu können, zogen sie von Friedrichshain in den Berliner Westen. Die Wohnung wurde kleiner – aber hier gibt es Gymnasien in bester Lage, gut ausgestattet, die nur wenige Klassen haben. Wenn Melanie Brüggemann von einer dieser Schulen spricht, gleich hier um die Ecke, die sie aber nicht namentlich nennen will, spricht ihr ganzer Körper mit. Sie will diese Schule – unbedingt. Sie will, dass auch ihre Tochter am Tag der offenen Tür mit Stolz die Schule vorstellt, dass sie Ehrgeiz ausstrahlt und Selbstbewusstsein. So ist das dort, und das ist gut so.

„Hier stimmt die Klientel“, sagt Brüggemann noch über das beliebte Gymnasium. Was sie auf keinen Fall will, ist eine Schule, an der die Jungs die Hosenbeine der Jeans in die Socken stopfen, wie in Neukölln oder Moabit. „Moabit“, sagt sie, „wäre eine Strafe.“

Dabei haben Eltern nun die Wahl. Drei Schulen durften sie angeben, jetzt beginnt das Warten. Und das Zittern: Was wird passieren, wenn das Kind an der ersten Schule abgelehnt wird – und die zweite und dritte Schule schon voll sind?

Niemand kann das genau sagen. So ist das Verfahren für Mütter und Väter eine Blackbox. Sie haben Angst davor, eine unbeliebte Schule, womöglich in einem der Problembezirke, zugewiesen zu bekommen. Wie wahrscheinlich das ist, weiß auch keiner. Deshalb gibt es ein Angstwort: Restschule.

Isabella, die Tochter, ein Mädchen mit blassem Teint und wachen Augen, reitet, tanzt, sie spielt Klavier und singt im Schulchor. Weil die Familie weiß, was Noten nun wert sind, dass sie die Eintrittskarte sind in die besseren Schulen der Stadt, hat Isabella Nachhilfe in Mathematik. Einmal wöchentlich kommt ein Hauslehrer für Englisch. „Man hat das Gefühl: Man muss jetzt gut sein“, sagt das Mädchen. Es klingt sehr erwachsen.

Die Brüggemanns haben getan, was sie konnten. Sie haben sich informiert. Sie fragten nach, wie viele Klassen ihre Wunsch-Schule aufmachen würde, wie viele Kinder darin Platz haben. Sie versuchten zu schätzen, wie gut ihr Kind sein müsse, um es zu schaffen. Immer kamen sie zu dem Schluss: Wir wissen es nicht.

Aber sie werden sich ihr Ziel jetzt nicht kaputtmachen lassen von denen in der Schulverwaltung. Notfalls wollen sie klagen. Einen Anwalt haben sie schon. Und sie sind da nicht die Einzigen.

Die Familien in der Aula des Werner- von-Siemens-Gymnasiums in Nikolassee, Berlins grünem Südwesten, wo die Kopfsteinpflasterstraßen schmal und die Einfamilienhäuser hinter Hecken versteckt sind, drängt es, mehr zu erfahren. Es ist Tag der offenen Tür, die Aula ist besetzt bis auf den letzten Platz. Das Schulorchester spielt Mozart, die Eltern tuscheln auf ihren Stühlen. Gleich wird der Schulleiter reden, und sie hoffen, klüger zu sein danach: Wie kommt man hierher, auf diese Schule?

Als die Mozartklänge verstummen, hat Schulleiter Ulrich Janotta wenig zu bieten, was optimistisch stimmen könnte. Den Eltern wird klar, wer hier neben ihnen sitzt. Ein Saal voller Konkurrenten.

Janotta, einem Mann der klaren Worte und von großer Herzlichkeit, bleibt nur die Wahrheit. „Wenn Sie mit dem Erstwunsch bei uns nicht durchkommen, wird es eine Achterbahnfahrt“, sagt er. „Ich kann Ihnen da nichts raten.“ Hilflosigkeit macht sich breit. Die Wahrheit in Zahlen ausgedrückt: 60 Prozent der Bewerber werden von den Schulen dieses Jahr erstmals nach eigenen Kriterien ausgewählt. Wobei die meisten auf den Notenschnitt setzen, nur auf den. Zehn Prozent der Plätze werden an Härtefälle vergeben, 30 Prozent verlost. Ein Härtefall könnte laut Schulverwaltung eine alleinerziehende Mutter mit Gehbehinderung sein. Doch was im Einzelfall wirklich zählt, wird später entschieden. Und auch das Los ist kein Pfund, auf das Eltern, die es gewohnt sind, für ihre Kinder zu entscheiden, gerne setzen.

Am Siemens-Gymnasium bedeutet das neun Schüler, die als Härtefall aufgenommen werden können. 27 Schüler, die hineingelost werden. Und 54, die die Schule selbst auswählt. 54! Im Saal sitzen dreimal so viele. Und es ist schon der zweite Tag der offenen Tür.

Die Wunschschule wird für viele hier ein Wunsch bleiben.

Am späten Abend sitzt Ulrich Janotta erschöpft in seinem Direktorenzimmer. Er macht sich Sorgen, weil er mit Klagen rechnet – aus Angst der Eltern, ihr Kind könne unter die Räder kommen. Janotta ist kein Freund davon, nur nach Noten zu urteilen. Aber er will auch auf der sicheren Seite stehen, juristisch gesehen. Er versteht die Eltern ja, sagt er. Der gesellschaftliche Druck sei so hoch, dass viele vergessen, ihrem Bauchgefühl zu trauen. Oder wenigstens ihren Kindern.

Im bürgerlichen Milieu bleibt das Gymnasium zugleich Mythos und Verpflichtung für die nächste Generation. Soziale Durchmischung auf einer Sekundarschule? Die will das Bürgertum nicht.

Vielleicht muss man von außen auf die Dinge sehen, um sie besser verstehen zu können. Jörg Ramseger, Bildungsforscher an der Freien Universität, spricht in seinem Büro, in das die Aufregung der Eltern nicht hineinreicht, fast emotionslos über ein weiteres Problem: Man müsse damit rechnen, dass sich der Unterricht in den Grundschulen durch den Willen zur Klage und die Fokussierung auf Noten verändere.

„Schule wird gnadenlos“, sagt er. Die Crux: Wie einheitlich auch immer die Punktevergabe auf dem Papier geregelt ist – Noten seien letztlich nicht vergleichbar. „Unterricht und Lehrer kann man nicht standardisieren“, urteilt der Professor. Und er spricht aus, was viele nicht gerne hören: Noten seien für das Lernen nicht erforderlich, nur für die Auslese.

Diese Auslese bleibt an den Lehrern hängen. Sie ist Bürde und Pflicht zugleich, und wer es sich schwer macht, der kann über dieser Aufgabe verzweifeln.

Rebekka Harding unterrichtet in Friedrichshain, sie ist Klassenlehrerin einer Sechsten, und sie schläft zurzeit nicht gut. Die junge Frau, mit kurzem Haar und zurückhaltendem Auftreten, nimmt die Ängste der Eltern mit in ihre Träume. Ein Kind spukt ihr häufig im Kopf herum: Malte, der Einzige, der keine Gymnasialempfehlung bekommen hat. Malte ist ihre persönliche Bürde. So sieht sie das.

Aber den Eltern, sagt sie, gehe es nur um den Status. „Es muss das Abitur sein. Auf dem Gymnasium.“ Rebekka Harding kennt Eltern, die „völlig erschrocken“ vom Besuch einer Sekundarschule wiedergekommen sind und ihr gesagt haben: „Das sind Kinder von Leuten, die an der Kasse sitzen oder bei der Müllabfuhr arbeiten.“ Sie klingt jetzt wütend. Viele Eltern aus ihrer Klasse halten diese Menschen, die hart arbeiten, für Asoziale. Und das würden sie ihren Kindern auch genau so sagen.

Harding hat einen Informationsmarathon hinter sich. Es gab Schulungen, Anweisungen, Druck von der Bildungsverwaltung. Zuerst sollten soziale Kompetenzen in die Bewertung mit einfließen. Bald jedoch wies die Verwaltung an, nur noch nach Noten zu beurteilen. Die Angst vor Klagen hat die anfangs gute Absicht, über Noten hinauszugucken, besiegt.

Ihre erste Mail von Eltern zum Thema Noten bekam die Lehrerin vor Weihnachten. Höflich formuliert, aber in der Botschaft eindeutig: Sie bewerten meinen Sohn nicht gerecht. Sie hat dann noch mehr auf das Kind geachtet und mit anderen Lehrern diskutiert. Aber es reichte nicht – nicht nur wegen der Noten. Maltes Sozialverhalten ist nicht gerade das beste. Die nächste Mail ist deutlicher. Man werde, schreiben die Eltern, Malte auch bei fehlender Empfehlung aufs Gymnasium schicken – „auch wenn Sie und die Schule unserem Kind diesen Weg versperren wollen!“ Die Lehrerin macht sich Sorgen. Malte ist labil.

Bei Schulleitern und Lehrern stapelt sich immer mehr Post dieser Art. Von Eltern, die sich ungerecht behandelt fühlen. Von Eltern, die ihre Grundschule für die allerschwerste halten. Und beim Tag der offenen Tür am Siemens-Gymnasium ist ein Raum fast immer gut besucht: der für die besonders Begabten. Nach oben soll es gehen mit dem Kind. Im System der Auslese muss es wettbewerbsfähig sein.

Melanie Brüggemann will mit ihrer Tochter nach Hause. Die anderen Mütter sind auch schon weg. Zum Abschied sagt sie: „Wir können entscheiden, was wir sein wollen: Verlierer oder Gewinner.“

Die Note, mit der sich Isabella für das Gymnasium bewirbt, ist 1,4.

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