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Berliner Laubenpieper: Gefährdete Großstadt-Paradiese

70.000 Laubenpieper gibt es in Berlin – viele sorgen sich um ihre Scholle Im Oktober entscheidet der Senat über die Verlängerung der Schutzfristen.

Ein freundliches „Guten Tag“ genügt, denn Zaungäste sind Dorothea Pahl-Rugenstein stets willkommen. Sie reicht ihnen über den Zaun ihres Kleingartens an der Durlacher Straße gern ein paar reife Kirschen, Äpfel oder Nüsse. „Das haben schon meine Großmutter und Mutter so gemacht, seit mehr als 80 Jahren besitzt meine Familie diesen kleinen Garten“, erzählt die 82-Jährige.

Die Nüsse stammen von dem großen Walnussbaum im Herzen der kleinen Wilmersdorfer Laubenkolonie Durlach, die 1915 gegründet wurde. Über 100 blühende Obstbäume gibt es insgesamt auf den nur 20, dicht bepflanzten Parzellen. Als einziger darf der Walnussbaum aufgrund der Berliner Baumschutzverordnung nicht gefällt werden. Eigentlich – denn ob dies dem über 80 Jahre alten Baum viel nützen wird, ist fraglich: Die Schonfrist für die Kolonie Durlach läuft im nächsten Jahr aus. Dann droht der Verkauf der durch die Nähe zu Kindergärten und Schulen, zum Volkspark Wilmersdorf und zur Stadtautobahn für Investoren attraktiven, 4000 Quadratmeter großen, als Bauland ausgewiesenen Fläche. Die Pächter von vier anderen Laubenkolonien in Wilmersdorf, Schmargendorf, Schöneberg und Neukölln müssen ab 2010 auch um ihre Gärten bangen. Und 22 weitere Anlagen sind auf Grundlage des Kleingartenentwicklungsplans ebenfalls nur bis 2014 geschützt. Im Oktober will der Senat über die Zukunft der Anlagen entscheiden.

„Die Stadt verscherbelt ihr Tafelsilber, und wir müssen tatenlos zusehen“, kritisieren die Durlacher Kleingärtner und spielen damit darauf an, dass der Berliner Liegenschaftsfonds, dem die Verwaltung der Kolonien obliegt, am schnellen Verkauf der Grundstücke an Investoren interessiert ist. So soll Geld in die leeren Haushaltskassen des Landes kommen. Dass dadurch wie im Fall der Ku’dammnahen Kolonie Württemberg, deren Schutzfrist bereits abgelaufen ist, ökologische Nischen neuen Luxuswohnungen und -Lofts weichen würden, wird angesichts der erhofften Wirkung auf die Finanzsituation als das kleinere Übel hingenommen.

„Und das, obwohl in Berlin alles andere als Wohnungsnot herrscht. Diese Ignoranz ist wie ein Schlag ins Gesicht“, empört sich Pahl-Rugenstein, die gern noch erleben möchte, dass nach Kindern und Enkeln auch ihre Urenkel in ihrem Garten spielen. Der nahe Volkspark sei dafür kein adäquater Ersatz: „Dort gibt es nur Rasen und Bäume – bei uns jedoch abertausende Blumen, Insekten, zahlreiche Vögel und sogar Fledermäuse, Igel und Frösche“, so Pahl-Rugenstein.

Ein kleines, von zwei Hochhäusern flankiertes Paradies für Anwohner aus der Nachbarschaft, die hier regelmäßig einen kleinen Abendspaziergang unternehmen wie für die 20 Pächterfamilien, von denen fünf in diesem Jahr Nachwuchs erwarten. Über den momentanen Wohnungsleerstand denkt Reiner Nagel von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung allerdings anders: Er glaubt, dass der Bedarf an Wohnraum in Berlin wieder zunehmen wird. „Diesen Schluss legen Prognosen bis 2030 nahe“, so der Diplom-Ingenieur.

Peter Ehrenberg, der Präsident des Berliner Landesverbands der Gartenfreunde, hat genug von Prognosen, vagen Versprechungen und Fristen: „Es muss endlich Schluss sein mit der Hinhaltetaktik des Senats, das zermürbt die Menschen“, sagt er und fordert als ersten Schritt eine Verlängerung der Schutzfristen für alle Kolonien bis 2020. Danach müsste allen der fast 950 Berliner Kleingartenanlagen dauerhafter Schutz gewährt werden. „Den Kahlschlag quer durch unsere Gärten machen wir nicht länger mit“, so Ehrenberg. In seinen Augen stellen langfristig gesicherte Kolonien einen erheblichen Wirtschaftsfaktor dar: „Wenn die Pächter wüssten, dass sie dauerhaft bleiben können, würden sie natürlich viel mehr investieren“, ist er überzeugt. Rund 70 000 Laubenpieper gibt es in Berlin, über 5000 von ihnen sind von den 2010 und 2014 auslaufenden Schutzfristen betroffen. „Ich bin sehr froh darüber, dass wir für insgesamt 80 Prozent der Kleingärten eine dauerhafte Sicherung erreichen können“, sagt die Senatorin für Stadtentwicklung Ingeborg Junge-Reyer (SPD). Für die übrigen 20 Prozent schimmert in diesen Worten allerdings wenig Hoffnung durch.

Für den Fall, dass sich der Senat auf keine weiteren Fristverlängerungen einlassen will, kündigt Ehrenberg Protest in Form von Demonstrationen und eines Antrags auf Bürgerentscheid an. Unterschriften gegen den Verkauf von Kolonie-Grundstücken haben die Gartenfreunde schon gesammelt – über 26 000 sind laut Ehrenberg bereits zusammengekommen. „Viele Menschen aus der Nachbarschaft zeigen sich solidarisch mit unserer Situation“, erzählt auch Michael Lucas.

Der Vorsitzende der Kolonie Durlach hat seine Parzelle im Jahr 1984 übernommen. Seit kurzem denkt der 68-Jährige darüber nach, einen Vertrag aufzusetzen, den alle Pächter unterschreiben müssen und der so eine Spaltung unter ihnen verhindern soll. Damit wollen die Durlacher ausschließen, dass in ihrer Kolonie das Gleiche passiert wie in der 1921 gegründeten Kolonie Württemberg: Dort hat die Mehrzahl der rund 50 Pächter eine Entschädigung für die Räumung ihrer Scholle von 3000 Euro angenommen, 18 Kleingärtner sind jedoch geblieben und kämpfen seitdem vor Gericht gegen den Liegenschaftsfonds. Drei von ihnen haben bereits erfolgreich gegen die ausgesprochene Kündigung geklagt, die endgültige Entscheidung über die Zukunft der Anlage fällt Ende November vor dem Oberverwaltungsgericht.

„Vom Verstand her lassen sich all diese Konflikte natürlich ganz nüchtern abwägen – solange man bloß nicht selbst betroffen ist“, sagt Durlach-Pächter Jürgen Stanulla, der wie viele andere Wilmersdorfer Laubenpieper in fußläufiger Entfernung zu seiner Kolonie wohnt. „Vielen Menschen hier blutet jedoch das Herz“, so der 64-Jährige. Für ihn, seine Tochter und Enkelin hat dieser Sommer zwar eine reiche Obsternte gebracht. Aber die Angst, es könnte der letzte sein, hat daraus eine traurige Jahreszeit gemacht.

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