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Berlin: Berliner Nachrufe: Jürgen Kaminski - geboren 1944

da war es zu spät, da war er mit der Krankheit konfrontiertAls Jürgen Kaminski sechs Jahre alt war, bekam er seine erste Brille. Die Untersuchung vor dem ersten Schultag in Ost-Berlin hatte ergeben: Eine vererbte Kurzsichtigkeit werde seine Sehkraft weiter verschlechtern.

da war es zu spät, da war er mit der Krankheit konfrontiert

Als Jürgen Kaminski sechs Jahre alt war, bekam er seine erste Brille. Die Untersuchung vor dem ersten Schultag in Ost-Berlin hatte ergeben: Eine vererbte Kurzsichtigkeit werde seine Sehkraft weiter verschlechtern. "Ich glaube nicht, dass er damals darunter gelitten hat", sagt seine Frau Christel. "Er hatte schon immer reichlich Selbstbewusstsein."

Von nun an war die Brille, deren Gläser von Jahr zu Jahr dicker wurden, Jürgen Kaminskis ständiger Begleiter. Ohne sie war er schon bald beinahe blind. Was das für den jungen Mann bedeutete, darüber hat er nie geredet. Seine Gefühle versteckte er hinter flotten Sprüchen und seiner Schlagfertigkeit. Beruflich war die Kurzsichtigkeit zunächst kein Problem. Zwar verweigerte man ihm die Fahrerlaubnis, aber der Job als Beifahrer auf einem Lkw der Caritas machte ihm über zehn Jahre lang Spaß. "Mit dem Lkw in der ganzen DDR herumzukommen, das hat ihm gefallen", sagt seine Frau. Aus welchem Grund er Mitte der 80er Jahre dort aufhörte? "Ich kann mich nicht mehr daran erinnern", sagt sie.

Jürgen Kaminski wechselte den Beruf, wurde Hausmeister. Die Arbeit gefiel ihm. "Er konnte zupacken, war als ehemaliger Schlosser handwerklich geschickt und war ein Organisationstalent." Nach der Wende wurden die Hausmeister in den Siedlungen entlassen. Auch Jürgen Kaminski wurde arbeitslos. Nach zwei Jahren endlich bekam er eine ABM-Stelle. "Wenn ich mich nur richtig anstrenge und engagiere, dann werden die mich schon übernehmen", war seine Hoffnung. Sein Engagement gefiel den Arbeitgebern. Einige Male wollte man Jürgen Kaminski fest einstellen, zum Beispiel in einer Schreinerei. Doch am fehlenden Führerschein zerplatzten die Träume. Eine Erfahrung, die an seinem männlichen Selbstbewusstsein kratzte. Über seine Verletztheit, seinen Kummer, seine Gefühle sprechen konnte und wollte er nicht. Stattdessen wurde er noch schroffer, forscher, polterte häufig ohne Anlass los.

Eine schwierige Zeit auch für die Eheleute. Dann endlich schien alles gut zu werden. Seine letzte ABM-Stelle sollte tatsächlich zur Festanstellung werden. Doch dafür war es dann schon zu spät. Kurz vorher hatte man ihm im Krankenhaus die vernichtende Diagnose mitgeteilt: Unterzungenkarzinom, fortgeschrittenes Stadium, keine Heilungschance. Die Krankheit machte den 55-Jährigen erst sprach-, dann hilflos. "Zu viel ist zwischen uns nie gesagt worden", sagt seine Frau. "Wenn wir mehr über unsere Gefühle gesprochen hätten, wäre manches anders gelaufen." Dennoch konnte Jürgen Kaminski ihr in den letzten Monaten mit seinen kurzsichtigen Augen mehr Gefühl und Nähe vermitteln als mit Worten in vielen Jahren vorher. "Ich bin sehr froh, dass wir diese letzte Zeit zusammen hatten", sagt seine Frau. Kurz vor seinem Tod feierte er noch zusammen mit seinen beiden erwachsenen Töchtern und seiner Frau zu Hause in Köpenick ein Fest. Wenige Tage später erwachte er nicht mehr aus dem Schlaf.

Ue

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