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Für ihn dreht sich alles um die Scheibe: Herbert Schmidt wird von vielen nur kurz Mr. Frisbee genannt.

© Verena Eidel

Berliner Originale: Der Frisbee-Spieler vom Görlitzer Park

Das Glück ist eine Scheibe: Herbert Schmidt spielt jeden Tag Frisbee. Das hilft ihm auch, seine Vergangenheit zu bewältigen.

Die Kuhle ist ideal. Man hat die anderen Spieler gut im Blick, und es gibt keine Bäume, die im Weg sind. Die Kuhle, sagt Herbert Schmidt, ist meine Kathedrale. Er ist eigentlich jeden Tag hier im Görlitzer Park in Kreuzberg mit seiner Frisbee-Scheibe. Immer nachmittags ab 15 Uhr. Außer, sagt er, es regnet in Strömen. Dann ist die Scheibe zu rutschig, dann geht es nicht.

Die glatte, außen gewellte Scheibe hat es Herbert Schmidt angetan. „Es ist ja nicht bloß das Zuspielen“, erklärt der 62-Jährige, „es ist vielmehr ein Tanz.“ Es gehe ja immer weiter, man müsse sich eben darauf einlassen – dann entstehen wie von selbst aus den alten Drehungen ganz neue Techniken. „Das sind dann diese Glücksmomente“, sagt er und dreht seine Frisbee gelassen auf dem nach oben ausgestreckten Zeigefinger.

An den allerersten dieser Momente kann er sich noch genau erinnern. Er war 30 Jahre alt und hatte eigentlich noch nie zuvor Frisbee gespielt. Da beobachtete er in einem Park zwei Frisbee-Spieler und war fasziniert. „Ich bin sofort hin und habe gefragt, ob ich mitspielen darf – und die haben es mir gezeigt.“ Dann hatte er irgendwann diese Idee von der sich drehenden Scheibe. „Erst habe ich das wieder verworfen. Aber dann einige Zeit später hat es Klick gemacht im Kopf und ich wusste: Es geht doch.“ Und es ging wirklich.

Sieben Stunden hielten sie die Frisbee schon einmal in der Luft

Seitdem ist das zu so etwas wie seinem Markenzeichen geworden, die Frisbee auf dem Zeigefinger zu drehen und mit dieser Drehung nach vorne zu werfen, sodass sie im besten Fall sich drehend bei dem anderen ankommt. „Und von dem Moment an wurde es leidenschaftlich“, sagt er, während seine Augen den Bogen der knallorangenen Frisbee vor den dramatisch aufsteigenden Wolkenbildern verfolgen. Es gehe ja hier nicht allein um Kraft, sondern vor allem um Technik und um Reaktionsvermögen. Und um Kreativität. Das zeigt Herbert Schmidt bereitwillig jedem, der es einmal versuchen möchte. Denn obwohl er sagt, er mache es vor allem für sich, das Werfen im Park – alleine geht es eben nicht.

Und das ist ja auch das Besondere. Man weiß nie, wer einem heute zuspielt. Welches Können, welcher Einsatz einem begegnen. Und dann gibt es noch diesen besonderen Ehrgeiz, den einige hier zusammen entwickelt haben: zu zählen, wie lange die Frisbee im Spiel bleibt, ohne auf den Boden zu fallen. Aber gezählt wird hier nicht in Würfen – sieben Stunden ist der Rekord aus der Kuhle.

„Man nennt mich Mr. Frisbee, den Frisbee-Jesus oder auch Sheriff“, sagt Herbert Schmidt und zaubert zum Beweis einen fliegenden Frisbee-Colt in die Luft. Aber es gibt noch einen Grund, warum die Frisbee Herbert Schmidt so viel bedeutet. Er wuchs ohne seine Eltern auf. Der Vater war US-Soldat, die Mutter Deutsche. Er und seine Schwester, zwei Besatzungskinder, für die sich niemand so richtig zuständig fühlte, kamen in einem Heim unter, bis er drei Jahre alt war. Dann wurde seine Schwester adoptiert und er selbst kam zu den Großeltern in Franken.

Wenn Schmidt spielt, dann kommen die Erinnerungen

Seine Schwester hat er seitdem nie wieder gesehen. „Ich habe sie mein ganzes Leben lang gesucht“, erzählt er. Aber niemand, kein Verband und keine Behörde, wollte ihm dabei helfen. „Das Schlimmste war, dass ich immer dachte, ich sei schuld.“

Erst 2005 habe er begriffen, ganz plötzlich, dass er nicht schuld daran war, was ihnen als Kindern zugestoßen ist. Er nickt hinüber zur Kuhle: „Und das habe ich auch der Frisbee zu verdanken.“ Wenn er spiele, dann kämen die Erinnerungen, dann kehre er zurück zu seinen Wurzeln. Und das sei wichtig. Nur so könne er vielleicht irgendwann Frieden finden. „Man weiß ja, wie wichtig das ist. Wenn man alles verdrängt, wird man krank.“

Auch deshalb ist die Kuhle im Görlitzer Park seine Kathedrale, sie ist ein Schutzraum für ihn. Wenn er dann noch mit den Kopfhörern seine Musik hört, dann kann er daran arbeiten, mit dem erlebten Unrecht abzuschließen. Der Frisbee gelingen also noch mehr Bögen: Sie löst das Alte und schafft Raum für das Neue.

„Und langweilig wird es ja nie“, sagt Herbert Schmidt. Er stupst seine Scheibe an, ganz kurz bloß – und sie windet sich elegant über seinem Kopf in die Luft. „Ich bin sicher, dass wir noch längst nicht alles rausgefunden haben, was möglich ist!“

Von den Autorinnen erschien bereits: „111 Berliner, die man kennenlernen sollte“ (Emons Verlag, 230 Seiten, 16,95 Euro). Nun begeben sich Lucia Jay von Seldeneck und Verena Eidel für uns auf die Suche nach noch mehr Berlinern. Bisher erschienen: Lizzy Scharnofske, das lebende Schlagzeug, und Andreas Zadonai, ein Bäcker der alten Schule.

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