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In Berlin sind so viele Taxen unterwegs, dass für jedes einzelne Unternehmen nicht genügend Einnahmen übrig bleiben.

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Berliner Taxigewerbe: Taxiunternehmen mogeln sich um Mindestlohn

In Berlins Taxigewerbe ist Schattenwirtschaft weit verbreitet. Fahrer werden systematisch um den Mindestlohn gebracht. Die Behörden sind überfordert oder haben resigniert.

"Totmann-Taste" nennen die Fahrer das Instrument, das sie Schicht für Schicht um einen Teil ihres Lohns bringt. Wenn die Fahrer die Taste nicht alle paar Minuten drücken, stoppt die Arbeitszeitzählung. Offiziell soll so verhindert werden, dass angestellte Taxifahrer weiter Lohn kassieren, während sie Mittagspause machen oder zwischendurch shoppen oder spazieren gehen. Tatsächlich dient die Taste häufig dazu, reguläre Standzeiten, in denen der Fahrer auf neue Kunden wartet, zu Pausenzeiten zu erklären.

Denn wer nicht alle paar Minuten die Taste drückt, wird vom System automatisch in den Pausenmodus umgeschaltet und verdient solange nichts mehr, bis er sich per Knopfdruck zurückmeldet. "Die meisten Geräte sind auf drei oder fünf Minuten eingestellt", berichtet Taxifahrer Burkhard Zitschke. "Das gibt es doch in keinem anderen Beruf, dass der Gang auf die Toilette oder das Holen eines Kaffees gleich vom Lohn abgezogen wird."

Doch angestellte Taxifahrer berichten von noch schärferen Maßnahmen: Demnach werden sie von ihren Unternehmen angewiesen, die "Totmanntaste" bewusst nicht zu drücken, wenn sie im Wagen auf Kundschaft warten. Am Taxistand sei das Gesprächsstoff, erklären mehrere Fahrer. Anweisungen würden demnach nicht schriftlich erteilt, aber die betroffenen Fahrer wüssten, was von ihnen verlangt werde. Ein Taxifahrer wagt sich jetzt aus der Deckung: Er hat eines der größeren Berliner Taxiunternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten auf Nachzahlung verklagt. Am 6. April wird der Fall vor dem Arbeitsgericht verhandelt, ein Musterverfahren, dem weitere folgen könnten.

Das Warten auf Kundschaft wird als Pause gerechnet, um den Lohn zu drücken

In einer anonymisierten Umfrage unter gewerkschaftlich organisierten Fahrern gab die Mehrheit an, Wartezeiten als Pausen zu erfassen. Dem Recherchezentrum Correctiv liegen zudem Stundenzettel vor, die diese Praxis zeigen. Bei Schichtzeiten zwischen acht und neun Stunden sind dort durchschnittliche Pausen von täglich mehr als zweieinhalb Stunden verzeichnet. Wobei manche "Pausen" nahtlos in den Feierabend übergehen. Etwa so: 20 Uhr bis 21.45 Uhr Pause, 22 Uhr Schichtende. Von den zwei Stunden Arbeit zwischen 20 und 22 Uhr werden nur die letzten 15 Minuten entlohnt. Macht 2,21 Euro brutto. Das Warten auf Kundschaft wird als Pause herausgerechnet, um die Stundenzahl zu drücken. So kann der Mindestlohn gezahlt werden – auf dem Papier.

Tatsächlich reichen die Umsätze oft nicht aus, um Wartezeiten zu bezahlen. Der durchschnittliche Netto-Stundenumsatz belief sich 2015 laut Senatsverwaltung auf etwa 15,90 Euro. "Um den Mindestlohn zu zahlen, wären rund 25 Euro nötig", erläutert Taxiunternehmer Detlev Freutel, Vorsitzender des Taxi-Verbands Berlin-Brandenburg (TVB).

Betriebe, die bei den Pausen tricksen, handeln rechtswidrig. Wartezeiten am Taxistand sind als Bereitschaftsdienst zu entlohnen, hat das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg klargestellt. Ein Verkäufer macht schließlich auch nicht Pause, wenn gerade kein Kunde im Laden ist. Doch kaum ein Fahrer traute sich bislang, gegen seinen Arbeitgeber vorzugehen. Und der Berliner Taximarkt ist unübersichtlich, es gibt verhältnismäßig viele kleine Unternehmen. Der Chef ist oft auch Kollege. Keiner will Nestbeschmutzer sein, keiner seinen Job riskieren. Ein Problem ist auch die Beweislast vor dem Arbeitsgericht. Absprachen erfolgen oft mündlich. "Viele Fahrer haben nicht einmal einen schriftlichen Arbeitsvertrag", sagt Taxifahrer Klaus Meier.

"Der Mindestlohn wird im Berliner Taxigewerbe definitiv nicht eingehalten"

Systematischer Lohnbetrug hat Methode, es hat sich eine Kultur des Wegsehens, der Schwarzarbeit und Ausbeutung etabliert. "Der Mindestlohn wird im Berliner Taxigewerbe definitiv nicht eingehalten", sagt Gewerkschaftssekretärin Susanne Meinke von Verdi Berlin. "Wir haben den Senat immer wieder auf das Problem hingewiesen, aber dort bestand kein Interesse, sich mit dem Thema zu beschäftigen."

Dass Berlin im Vergleich aller deutschen Taximärkte mit Abstand am schlechtesten abschneidet, ist auch das Ergebnis einer von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt 2015 in Auftrag gegebenen Wirtschaftlichkeitsstudie. Demnach geraten ordnungsgemäß arbeitende Unternehmen immer stärker unter Druck. Es existiere eine "sehr ausgeprägte Schattenwirtschaft".

Dabei tut sich durchaus etwas, wenn auch nur als Folge einer neuen Rechtslage im Bund: Seit Januar ist nämlich nach einer sechsjährigen Übergangsfrist in ganz Deutschland das Fiskaltaxameter Pflicht. Dabei handelt es sich um ein Gerät, das Umsatzunterdrückung und Schwarzfahrten erschweren soll. Dazu werden alle Fahrzeugbewegungen erfasst und auf einer Verschlüsselungskarte gesichert sowie parallel online versendet und auf einem externen Server gespeichert. In Hamburg wurde es bereits 2011 auf freiwilliger Basis eingeführt, vom dortigen Senat gefördert mit 1500 Euro pro Taxi. Dadurch fielen die Trickser auf, weil sie das Angebot der Nachrüstung ausschlugen. Die Zahl der Taxen reduzierte sich, ohne dass es dafür einen rechtlich angreifbaren "Konzessionsstopp" gebraucht hätte. Heute gilt der einst wilde Hamburger Taximarkt als gezähmt und reguliert. Rund 3200 Taxifahrer sind dort unterwegs und erzielen auskömmliche Umsätze, von denen ihre Berliner Kollegen nur träumen können.

Das zuständige Amt hat zu wenig Personal für eine umfangreiche Kontrolle

In der Hauptstadt dagegen kommt die Einführung des Fiskaltaxameters trotz Rechtspflicht nicht voran. Eine staatliche Förderung gibt es nicht. Nach Schätzungen von Insidern sind bisher gerade einmal rund 700 der insgesamt 8313 Berliner Taxen umgerüstet. Genaue Zahlen kennt niemand. Eine Sprecherin der Senatsverwaltung für Finanzen gibt auf Anfrage zu, dass ihre Behörde keine Ahnung habe, wie viele Fiskaltaxameter bereits zum Einsatz kommen. Und sie erklärt noch etwas anderes: Das Gerät solle ausdrücklich nicht dafür eingesetzt werden, Lohnbetrug zu verhindern. Es geht um die Speicherung steuerrelevanter Daten, nicht um das Arbeitsrecht.

Die Konzessionsbehörde, die Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, teilt auf Anfrage lapidar mit: "Die Kontrolle der Einhaltung des Mindestlohns ist zweifelsohne eine wichtige Aufgabe." Aha. Doch bewältigen will man die Aufgabe offenbar nicht, da wird lieber zuständigkeitshalber auf den Zoll verwiesen. Dabei könnten Konzessionen verweigert oder widerrufen werden, wenn Zweifel an der Zuverlässigkeit des Antragstellers bestehen. Aber in der genannten Wirtschaftlichkeitsstudie heißt es mit Blick auf das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten (Labo), das die Berliner Taxen kontrollieren soll: "Der Vergleich mit der effizient arbeitenden Hamburger Genehmigungsbehörde zeigt, dass die aktuellen personellen Kapazitäten des LABO nicht für eine wirkungsvolle und flächendeckende Aufsicht reichen." Mehr als 8000 Taxen standen im Dezember 2016 nur zehn Stellen für Antragsbearbeitung, Betriebsprüfungen, Außenkontrollen und den Widerruf von Konzessionen zur Verfügung.

Die turnusmäßige Betriebsprüfung umgehen die Taxi-Unternehmen

Eine an andere Großstädte angelehnte restriktivere Vergabepraxis wird in Berlin kategorisch abgelehnt. So kann die Zahl der Taxen weiter steigen wie bisher: Allein zwischen 2011 bis 2016 wuchs die Flotte um mehr als 15 Prozent von 7200 auf 8300 Fahrzeuge.

Das gut gemeinte Mindestlohngesetz? Im Berliner Taximarkt führte es dazu, dass auch zuvor steuerehrliche Fahrer und Unternehmen das Tricksen anfingen. Die Berliner Strukturen, sagt Taxiunternehmer und Verbandsvorsitzender Freutel, belohnen eben die Betrüger. Behördliche Nachlässigkeit deckt deren Machenschaften. So umgehen Taxiunternehmer zum Beispiel die turnusgemäße, alle zwei Jahre anstehende Betriebsprüfung, indem sie einfach rechtzeitig ihre Konzessionen zurückgeben. Ein Strohmann beantragt parallel neue Genehmigungen – und weiter dreht sich das Karussell. Das Risiko ist gering: Die Versagungsquote bei Erstanträgen auf eine Taxikonzession in Berlin liege aktuell bei rund zwei Prozent, teilt die zuständige Behörde mit.

Der Autor ist Mitarbeiter des Recherchezentrums Correctiv. Die Redaktion, mit der der Tagesspiegel kooperiert, finanziert sich über Spenden und Mitgliedsbeiträge.

André Ricci

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