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Zur 750-Jahr-Feier baute die DDR das alte Stadtzentrum auf. Historisch und stilvoll sollte es aussehen.

© Doris Spiekermann-Klaas

Berlins alte Mitte: Nikolaiviertel: Mein Leben im DDR-Disneyland

Touristen lieben das Nikolaiviertel. Aber wie kann man da nur wohnen? Auch unsere Autorin war zuerst skeptisch. Aber dann wurde es eine Liebesbeziehung. Trotzdem musste sie irgendwann enden.

Von Katrin Schulze

Es hat nicht auf Anhieb gefunkt. Als ich zum ersten Mal ins Nikolaiviertel ging, fand ich es, nun ja, skurril – ein bisschen zu künstlich, zu altbacken. Und überhaupt: Was hat man da zu suchen, wenn man nicht gerade Tourist ist und auch nicht gerne über Touristen stolpert? Die kleine Wohnung, die dort mittendrin frei war, wollte ich mir aber wenigstens anschauen. Sie war günstig und zentral gelegen. Ich war Studentin. Bestenfalls wird Wohnraum in dieser Lebensphase eh nur zum Schlafen genutzt. Also zog ich vor sechs Jahren ein. Und verknallte mich.

Nirgends so schön wie hier

Wie es oft so ist bei Beziehungen, die holprig starten, wurde meine Bindung zur Gegend inniger. Inzwischen traue ich mich zu sagen: So schön (und schön erschwinglich) wie im Nikolaiviertel lebt es sich kaum irgendwo anders im Berliner Zentrum. Von meinem Balkon blickt man auf den Berliner Dom, die Marienkirche und den Fernsehturm. Direkt vor der Haustür liegt das Marx-Engels-Forum. Nur Marx und Engels, die Bronzefiguren, sehe ich nicht mehr, seit sie wegen der Bauarbeiten für die unsägliche U-Bahnlinie 5 verrückt werden mussten. An die eine Seite meines Hauses grenzt das Rote Rathaus, auf der anderen frisst sich die Spree durch die Stadt. Hach, wie schön. Schön für mich auch, dass offenbar niemand aus der Stadt weiß um die Lebensqualität in der Mitte von Berlin-Mitte.

Getarnte Platte

Die Blicke, die ich jedes Mal aufs Neue ernte, wenn ich die Frage nach meinem Wohnort beantworte, bewegen sich zwischen Erstaunen und Entsetzen. Wie jetzt, Nikolaiviertel? Da kann man wohnen? Das ist doch ’ne Tourigegend. Ja, ist es, und ja, man kann dort leben, allerbestens sogar. Genau genommen sehen das etwa 2000 Menschen so, die hier – größtenteils in standardisierten Häusern Marke WBS 70 – zu Hause sind. Aber so liebevoll getarnt wie im Nikolaiviertel hat die DDR ihre Plattenbauten sonst nicht. Während sich die Platte auf der anderen Seite der Straße an der Leipziger Straße dem Himmel entgegenreckt, geht es im Nikolaiviertel nicht über den 7. Stock hinaus, dazu kommen spitze Giebel und Verzierungen. Eine Frage des Prestiges.

Früher lebten hier Ersteklassespione

Schließlich sollte es prachtvoll sein, damals 1987, als die Stadt 750 Jahre alt wurde – und der Rest des kleinen Landes immer gebrechlicher. Guck her, unsere olle DDR kann auch fein, historisch und stilvoll, so hätte das Motto lauten können. Herausgekommen dabei ist eine Art DDR-Disneyland, fertig gestellt, kurz bevor der Staat kollabierte und seine Bürger feststellen mussten, dass das echte Disneyland noch viel schriller ist als diese schräge Mixtur aus historischen Gebäuden, Repliken und Fertigbauteilen im Nikolaiviertel. Und nur wer es sich verdient hatte, so wird es erzählt, durfte zu Ostzeiten hier einziehen. Einer meiner Nachbarn weiß von Ersteklassespionen zu berichten, mit denen er früher zusammenlebte. Aber pssst.

Die Alten, der "Nußbaum" und der Ärger mit der U-Bahn

Ein paar Alte sind geblieben; sie leben angesichts der sonstigen Mieten und der Zentrumslage beinahe unverschämt preiswert. Keine zehn Minuten sind es zu Fuß zum Alexanderplatz und zum Hackeschen Markt. Ansonsten ist es in den vergangenen Jahren bunter geworden im Viertel. Junge Familien sind gekommen und viele Zuwanderer. Mein russischer Nachbar von Gegenüber zum Beispiel, der mehr Freunde zu haben scheint als jeder Teenager. Auch ein paar kapitalistische Restaurant- und Einkaufsketten sind nach der Wende eingezogen. Was Honecker wohl dazu sagen würde?

Ganz vergessen ist die DDR nicht

Dabei ist das Nikolaiviertel viel älter als seine Disneyland-Pläne. Es gilt als Geburtsort Berlins, die Nikolaikirche als das älteste erhaltene Bauwerk der Stadt. Vieles andere aus längst vergangenen Zeiten hat die DDR einfach nachgebaut und hier hingesetzt: das Ephraim-Palais am Mühlendamm, die Gerichtslaube an der Poststraße. Und natürlich die Gaststätte „Zum Nußbaum“, das frühere Stammlokal der Künstler Heinrich Zille, Otto Nagel und Claire Waldoff.

Kein Wunder, dass die 775-Jahr-Feier der Stadt im vorigen Jahr genau hier stattfinden sollte. Das Problem daran war nur, dass das Viertel dafür viel zu klein war. Die Menschen quetschten sich durch die Gassen, standen Schlange an den Ständen, nur um festzustellen, dass die Getränke alle waren, als sie endlich dran waren – ganz vergessen ist die DDR dann halt doch nicht.

Der einzige Ärger: Die U-Bahn

Mittlerweile mag die Wiege der Stadt nicht mehr recht passen zum restlichen Berlin. Sie wirkt wie reingepflanzt mitten in ein Großgebiet, das sich viel rasanter entwickelt als sein uriger Kern. Aber genau darin, an Besonderheiten wie der mit 16 Metern kürzesten Gasse Berlins besteht der Reiz des Nikolaiviertels. Honeckers Puppenstube. Und meine ganz persönliche Puppenstube liegt mittendrin. Zuletzt gab es nur einen Störfaktor: den Lärm, den die Bagger und Arbeiter für die neue U-Bahn vor meinem Fenster produzierten. Ansonsten ist alles bestens gelaufen – bei den Angeboten im Viertel.

Von kleinen Geschäften und der neuen Liebe

Da kann man in die Museen gehen oder in die teils hoch spezialisierten Shops. Ein Spieleladen etwa vertreibt alle erdenklichen Arten von Karten, ein anderer 1000 Kugeln und (Oster-)Eier. Dann sind da die vielen Restaurants, in die ich mich lange nicht gewagt habe, weil ich wie so viele andere glaubte, dass nur Massenware für Massentouristen angeboten wird. „Mutter Hoppe“, die Altberliner Gastwirtschaft, steht in jedem Stadtführer. Ebenso beliebt sind die vielen Schenken am Spreeufer. Wenn man zur richtigen Zeit vorbeischaut oder an kalten Wintertagen, ist es direkt gemütlich. Ungeschlagen bleibt der „Nußbaum“. Nicht wegen Nagel, Zille und Waldorff, sondern wegen einer kleinen Besonderheit, die man leicht übersehen kann. Aus einer Luke an der Seite verkaufen sie Bier.

Der Wohnung entwachsen

Warum also hätte ich hier weggehen sollen? Vielleicht, weil ich mein Studium schon vor Jahren abgeschlossen habe und meiner kleinen Wohnung nach und nach entwachsen bin. Ich habe ein Platzproblem bekommen. So begab ich mich vor eineinhalb Jahren auf die Suche nach einer größeren Wohnung. Oder gab zumindest vor, das zu tun. In Wirklichkeit schaute ich mehr des Alibis wegen denn aus Überzeugung auf die Angebote. Insgeheim wollte ich bleiben, und zwar nicht nur, weil alles andere viel zu teuer war. 300 Euro zahle ich – warm.

Neue Liebe

Und doch: Jetzt wurde es mir zu viel. Jetzt ist es passiert. Es gibt Wissenschaftler, die behaupten, dass echte innige Liebe, also Verliebtsein maximal sieben Jahre anhält. Meine Erfahrung sagt, das ist hoch gegriffen. Natürlich mag ich es immer noch, und ich werde sehr gerne zurückkommen. Erst einmal aber werde ich das Nikolaiviertel verlassen. Ich habe mich neu verknallt. Sie ist größer und ruhiger, meine neue Wohnung in Charlottenburg.

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