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Berlins Brötchen: Frisch (auf)gebacken?

Das „Brötchenmonopol“ liegt schon lange nicht mehr bei den traditionellen Handwerksbäckereien. Kioske, Tankstellen, Supermärkte – auch sie holen heiß dampfende Schrippen aus dem Ofen.

Draußen ist es dunkel, in der Backstube leuchtet es bereits hell: hellgraue Fliesen, helle Wände, weißer Mehlstaub im Raum. Ein unförmiger Teigbatzen liegt auf der langen hölzernen Arbeitsplatte, vier Männer in weißen T-Shirts und schwarz-weiß karierten Hosen teilen sich den schmalen Platz. Sie trennen kleine Portionen vom Teigberg, wiegen, kneten, formen, rollen. Ein Griff zur Seite, eine 180 Grad-Drehung zu den Brotformen, ein hastiger Weg zur Knetmaschine. Die Bäckerchoreografie in der Dresdner Feinbäckerei in Friedrichshagen ist in vollem Gange, ihre Akteure haben jeden Handgriff verinnerlicht.

Seit einer Stunde wird in der Backstube gewerkelt. Für Bäckermeister Rainer Schwadtke beginnt der Arbeitstag um Mitternacht, wenn andere übers Zubettgehen nachdenken. Der 48-Jährige lebt für sein Handwerk, schwärmt von seinem Beruf. So trifft man ihn denn auch meist in seiner Bäckerkluft an: „Nur zu Veranstaltungen lege ich die mal ab.“ Schwadtke kommt nicht aus einer Bäckerfamilie, trotzdem wusste er schon als kleiner Junge, dass er einer werden möchte. 1995 übernimmt er die Dresdner Feinbäckerei, die seit 108 Jahren an gleicher Stelle steht, drei Jahre später zwei Filialen eines insolventen Bäckers. Seine Backstube ist gut ausgelastet, das Geschäft läuft.

Konkurrenz von allen Seiten

Aber das Backgewerbe hat sich verändert. In den 50er Jahren bestimmten überwiegend kleine Familienbetriebe den Brötchenverkauf – von der angrenzenden Backstube landete die Ware frisch in den Verkaufsregalen. Heute kommen die Schrippen auch in Kiosken, Tankstellen und Supermärkten dampfend heiß aus dem Ofen. Die Konkurrenz schneidet sich ihr Stück vom großen „Bäckerkuchen“ ab. Für sie ist es ein willkommener Zuverdienst und Service am Kunden, sie leben nicht davon, sind auf den Gewinn mit den Brötchen nicht angewiesen. Zusätzlich gibt es noch die vielen Selbstbedienungs-Backshops. Wie groß die Konkurrenz für die traditionellen Handwerksbäckereien in Berlin ist, lässt sich laut Hans-Joachim Blauert, Innungsmeister der Bäckerei-Innung in Berlin, in Zahlen nur schwer ermitteln. Er schätzt, dass bei Berlins Brötchen 60 Prozent des Umsatzes beim Bäckerhandwerk liegt, beim Brot hingegen 60 Prozent bei der Industrie.

Des Bäckers Schrippen: Rainer Schwadtke in seiner Backstube.
Des Bäckers Schrippen: Rainer Schwadtke in seiner Backstube.

© Sandra Rudel

Woher kommen die Brötchen der Konkurrenz? Wer nicht selbst backt oder sein Sortiment erweitern will, kann sich mit frischen Teiglingen zum Aufbacken beliefern lassen, zum Beispiel von Dewiback in Spandau. In Berlin machen das circa 2.000 Betriebe. Zum Kundenkreis des Handelsunternehmens gehören Backshops, Catering-Betriebe, Hotels, Kantinen und Restaurants. Geschäftsführer und Unternehmensgründer Michael Decius erinnert sich an den Einzug der Bäckereien mit industriellem Herstellungsverfahren. Vor gut 23 Jahren sei das gewesen, „da war das noch unbekannt“. Seit Firmengründung im Jahr 1996 sei Dewiback markant gewachsen, mehr als 800 Artikel bietet das Unternehmen heute an. Mit der Umsatzentwicklung in Berlin ist der 49-jährige Betriebswirt zufrieden. Die belieferten Unternehmen sparten nicht nur die Produktionskosten, sondern auch ausgebildete Fachkräfte.

Der Ofen muss heiß werden. Während das mannshohe Stahlkasten mit den fünf Luken still vor sich hinheizt, verfrachtet ein Bäcker nacheinander große Teigfladen mit einem dumpfen Geräusch auf die Waage. Von dort landen sie in den Händen des nächsten Bäckers. Der rollt sie auf der von Mehlstaub überzogenen Holzplatte hin und her zu großen Teigkugeln. Jeweils eine davon landet auf einem orangefarbenen Kunststoffblech mit 30 gleichförmigen Kuhlen. Ab in die Brötchenpresse, Klappe runter, Start. Die Maschine ruckelt sie in Brötchenform.

Weniger Handwerksbäckereien in Deutschland und Berlin

Die Anzahl der Bäckereibetriebe ist geschrumpft: in den letzten 60 Jahren von rund 55.000 im alten Bundesgebiet auf 13.666 im Jahr 2012 in ganz Deutschland. Eine Entwicklung, die auch an Berlin nicht vorübergezogen ist. „Von 600 Handwerksbetrieben nach der Wiedervereinigung sind heute noch 120 bis 130 übrig geblieben“, erklärt Innungsmeister Blauert. Häufig werden Meisterbetriebe, deren Besitzer in den Ruhestand gehen, von größeren Bäckereien übernommen, sie erweitern ihr Filialnetz. Brötchen und Co. werden in einer zentralen Produktionsstätte gebacken und anschließend zu den Filialen gefahren – ein Trend, laut Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks.

Fast 45 Prozent weniger Lehrlinge als noch vor sechs Jahren haben in 2012 eine Bäckerausbildung in Deutschland begonnen, im gleichen Zeitraum war die Anzahl der registrierten Betriebe um 16 Prozent gesunken. Bäckermeister Schwadtke bildet aus, passenden Nachwuchs findet auch er nicht so einfach. „Das Bäckerhandwerk werde nicht mehr genug geachtet“, erklärt er, „Heutzutage wird den Schülern von verschiedenen Seiten suggeriert, du musst Abitur machen und studieren“.

Schrippen, Croissants, Mohnzöpfe, Vollkornstangen – auf großen Backblechen liegen die rohen Teigwaren. Sie sind noch nicht an der Reihe. Der Backprozess ist genau getaktet und folgt einem System. Mit schnellen Bewegungen schiebt der Bäcker Blech für Blech in die Ofenluken. Ein kratzendes Geräusch mischt sich in den Vorgang, sein Bäckerkollege befreit die Holzplatte von Mehl und Teigresten, um sie für den nächsten Teig vorzubereiten.

Die Ansprüche der Konsumenten haben sich verändert

Wachsende Konkurrenz, weniger Nachwuchs – und veränderte Kundenwünsche. „Der klassische Bäcker findet kaum noch statt“, erklärt Schwadtke, „die Kunden wollen ausgefallene Backwaren, zum Beispiel Ciabatta mit Oliven". Geschmack, der individuelle Geldbeutel, Öffnungszeiten und Bequemlichkeit entscheiden heute, wo Brötchen und Backwaren gekauft werden. Es gibt aber auch den Kreis an Menschen, der sich mit seiner Handwerksbäckerei identifiziert und eine ausführliche Beratung wünscht. Der Duft ist für Schwadtke ein entscheidender Faktor: „Kunden wollen den Duft frischer Brötchen. Die Bäckereien schaffen sich selbst Konkurrenz, wenn sie um sechs Uhr morgens keine warmen Brötchen mehr anbieten, weil die Ware schon vor Stunden angeliefert wurde.“ Und warme Backwaren möchten Konsumenten mittlerweile auch abends noch. „Wir Konsumenten sind auch nicht ganz unschuldig daran, wenn wir rund um die Uhr frische Brötchen und frisch aufgebackene Brote erwarten“, meint Meinolf Lindhauer vom Max-Rubner-Institut. Er beschäftigt sich im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft mit der Verarbeitung und der Zusammensetzung von Backwaren.

Über die Qualität sagt das Produktionsverfahren nichts aus

Handwerk oder Industrie? Welche Brötchen besser schmecken, darüber lässt sich streiten. Über die Qualität sagt das Produktionsverfahren nichts aus. „Es gibt schlechte und es gibt Spitzenprodukte – unabhängig, ob von Industrie oder Handwerk hergestellt“, meint Lindhauer. Allgemeingültige Aussagen seien einfach nicht möglich. Tendenziell setzten Handwerksbäcker mehr Backmittel und Zusatzstoffe ein als Industriebäcker. In Kombination mit einem Universalmehl ermöglichten sie eine größere Produktvielfalt bei guter Qualität. Industriebäckereien können durch große Stückzahlen auch häufiger Spezialmehle mit spezifischen Eigenschaften für das jeweilige Produkt verwenden. „Gesundheitsschädlich sind Backmittel und Hilfsstoffe grundsätzlich nicht“, erklärt Lindhauer.

Auch die Dauer, die einem Teig zum Reifen gegeben wird, hat positive Eigenschaften auf die Qualität von Backwaren, sie lässt sich aber auch durch Backzusätze beschleunigen. Die Effekte einer Reifezeit von ein bis zwei Stunden, lassen sich so innerhalb weniger Minuten erzeugen. Diese Möglichkeit werde laut Lindhauer heute häufiger eingesetzt, als noch vor ein paar Jahren. „Würden Sie heute ein Auto kaufen mit dem Stand der Technik von 1914? Selbstverständlich machen sich alle den Wissensfortschritt zu Nutzen, es sei denn, sie vertreten eine Philosophie.“ Die Vorteile der Hilfsmittel lägen auf der Hand: „All diese Hilfsmittel erleichtern die Herstellung, ermöglichen eine gute und gleichbleibende Produktqualität, auch bei Einsatz nicht immer übermäßig qualifizierten Personals.“ Bequem findet Handwerksbäcker Schwadtke Bäcker, die auf solche Mittel zurückgreifen. Ein riesiger Stahltopf mit wertvollem Inhalt steht in seiner Backstube: Der Sauerteig ist die Basis für viele seiner Brote. „Da kommt nichts rein, was da nicht reingehört“, wird Schwadtke nicht müde zu betonen.

Es ist warm geworden in der Backstube. Mit einer großen Holzschippe werden die mit Brötchen beladenen Bleche aus dem Ofen gezogen. Prasselnd landen sie in einem Korb. Beschlagene Fensterscheiben, im Hintergrund zieht eine Klangwelle aus Rock und Pop durch den Raum. Die Handwerksproduktion ist auch um vier in der Früh noch nicht vorbei. Hier ist noch alles so ziemlich beim Alten, bald kommen die ersten Kunden.

Sandra Rudel

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