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BERLINS PFLEGEHEIME STELLEN SICH DEM VERGLEICH 3. Folge: Die Tabelle für Neukölln: Mangel an Kräften

Schwerstarbeit, Schichtbetrieb, schlaflose Nächte – der Alltag im Heim ist ein harter Job Obwohl es der Branche gut geht, stehen die Mitarbeiter unter Druck. Eine Pflegerin erzählt

Ein Schluck Kaffee, ein Zug an der Zigarette, ein heftiges Kopfschütteln. „Ich frage mich manchmal, warum ich diesen Job überhaupt mache“, sagt Charlotte Wagner (Name geändert). Selbst an ihrem freien Tag ist sie unruhig, wenn sie von ihrer Arbeit erzählt – besonders von jenem Freitag in diesem Herbst: 20 Pflegebedürftige muss die 40-jährige Krankenschwester wecken, waschen, windeln. In zwei Stunden kaum zu schaffen.

Tabletten, die vor dem Frühstück verabreicht werden sollen, gab es deshalb erst zum Mittag. „Da bleibt auch keine Zeit für ein paar nette Worte“, sagt Wagner. Die kleine Frau mit wachem Blick und roten Haaren arbeitet in einem privaten Heim – ein schönes Haus mitten in der Stadt. Wer ihr Arbeitgeber ist, möchte sie nicht in der Zeitung lesen. Aus Angst: „Zwei Abmahnungen hab ich schon.“

Hunderte Berliner Pfleger beschweren sich jedes Jahr über ihre Arbeitsbedingungen. In einigen Häusern gibt es nicht genug Personal, um die Bewohner rechtzeitig zur Toilette zu bringen. Stundenlang liegen sie in benutzen Windeln. In anderen Heimen packen zu wenig Helfer mit an, wenn ein bettlägeriger Bewohner umgesetzt werden muss, Stürze drohen. Altenpfleger berichten immer wieder, dass sie zu Küchendiensten gezwungen werden, obwohl sie in der Pflege gebraucht werden.

In einer Einrichtung wurde eine bettlägerige Bewohnerin so selten bewegt, dass sich ihre Haut entzündete. Für die täglichen Schichten waren zu wenige Mitarbeiter eingeplant. Als sich die Pfleger bei ihrem Chef über die schlechte Planung beschwerten, habe der nur gesagt: „Sie können auch gehen, übers Arbeitsamt findet sich schon jemand Neues.“ Die wenigsten trauen sich, offen über den Druck durch die Heimbetreiber zu sprechen.

Charlotte Wagner beschwerte sich ganz offiziell bei der Heimleitung. Regelmäßig hebt die kleine Frau Patienten vom Bett in den Rollstuhl. Das tut sie selbst dann, wenn zwei Helfer vorgesehen sind. „Sonst kann ich den Zeitplan nicht einhalten“, sagt sie. Trotzdem finden sich auf der Anwesenheitsliste später zwei Unterschriften: Meist ist eine Kollegin bereit zu lügen und gibt schriftlich an, beim Umsetzen geholfen zu haben. Davon profitiert der Betreiber: Wenn die Pflegekassen mitbekämen, dass eventuell ein einziger Helfer ausreicht, bekäme das Heim weniger Geld für den Patienten.

Wagners Arbeitgeber spart, wo er kann. Wenn Kollegen wegen Krankheit oder Urlaub ausfallen, werden allenfalls ein paar Leasingkräfte geholt. Meist sind die insgesamt 50 Pfleger, aufgeteilt auf drei Schichten, mit den 130 Bewohnern überfordert: Selten sind mehr als zwanzig Kollegen zur selben Zeit im Haus.

„Wir wünschen uns generell mehr Personal“, sagt Herbert Mauel von der Arbeitgebervereinigung Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste, der allein in Berlin 130 Pflegeeinrichtungen vertritt. Doch bei dem, was die Kassen den Heimen bezahlen, könne sich kaum jemand mehr Personal leisten. „Dazu müsste der Gesellschaft die Pflege ihrer Alten mehr wert sein“, sagen Heimbetreiber. Mehr Fachkräfte fordert auch die Politik. Jasenka Villbrandt, seniorenpolitische Sprecherin der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus, findet die Arbeitsbedingungen in vielen Heimen skandalös.

Die Verträge zwischen Pflegekassen, Senat und Heimen sehen für 20 Bewohner, wie sie in Wagners Haus leben, immerhin zwei Mitarbeiter in jeder Schicht vor. Diese Richtlinie ist ein Durchschnittswert, der im Laufe eines Jahres nicht unterschritten werden sollte.Wegen Urlaub und Krankheit kann es passieren, dass ein Mitarbeiter allein zwanzig Bewohner zu versorgen hat. Tage wie der Freitag vor ein paar Wochen sind also kein Einzelfall.

Auf dem Papier hätten die meisten Pflegeheime ausreichend Personal, sagt Michael Meyer von der Berliner Heimaufsicht. „Doch wir bekommen so viele Beschwerden, wir können nicht allen nachgehen.“ Im Außendienst hat die Heimaufsicht 17 Mitarbeiter. Nur rund die Hälfte der insgesamt mehr als 300 Pflegeinrichtungen in der Stadt wird im Laufe eines Jahres kontrolliert. „In jedem zweiten Haus sind regelmäßig zu wenig Mitarbeiter im Einsatz“, schätzt Michael Musall von der Gewerkschaft Verdi.

Etwa 16 000 Pfleger – zwei Drittel sind Frauen – arbeiten in den Berliner Häusern. Die Hälfte von ihnen hat einen Abschluss als Kranken- oder Altenpfleger. Jeder fünfte Pfleger ist inzwischen der Gewerkschaft oder dem Berufsverband beigetreten. Das sei bitter nötig, sagt Musall. Niemand prüfe, ob ein Investor geeignet sei, ein Haus mit hilflosen Menschen zu betreiben.

Als Charlotte Wagner zusammen mit einigen Kollegen 2006 einen Betriebsrat gründete, reagierte die Geschäftsführung prompt: Die Abteilung, in der die meisten Betriebsratsmitglieder arbeiteten, wurde aufgelöst. Die Bewohner mussten in ein neues Haus ziehen, das der Betreiber kürzlich bauen ließ. „Wie Kartoffelsäcke wurden die alten Damen abtransportiert“, sagt Wagner. Die Schwestern bekamen für die neue Heimfiliale umgehend Hausverbot. „Der Geschäftsführer wollte verhindern, dass wir dort wieder einen Betriebsart gründen“, vermutet Wagner.

Das größte Problem für viele Pfleger und Schwestern sei der Spagat zwischen dem eigenen Anspruch an den Beruf und den täglichen Erfahrungen am Arbeitsplatz, beobachtet der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK). Die Zeit, die den Pflegenden für den einzelnen Bewohner bleibe, sei viel zu kurz. „Für das Zähneputzen bleiben oft nur zwei Minuten“, sagt Charlotte Wagner. Da könne es passieren, dass Pfleger den greisen Bewohnern entnervt die Zahnbürste entreißen, um den Alten die Zähne selbst schneller zu putzen.

In der Branche sind psychische und körperliche Schäden weit verbreitet. Schweres Heben, Schichtbetrieb und Nächte ohne Schlaf machen auf Dauer kaputt. „Wenn ich Kinder hätte, müsste ich den Job an den Nagel hängen“, sagt Wagner. Viele steigen vorzeitig aus, kaum jemand arbeitet bis zur Rente. „Kaputter Rücken, Stress und Burn-out“, teilt die Berufsgenossenschaft mit. In einer Studie des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung heißt es, dass die Belastung für Pfleger zunimmt, während sich die Versorgung der Bewohner verschlechtert.

Doch nicht nur der Druck aus den Chefetagen zehrt an den Nerven. „Miese Schlampe“, habe sie eine verwirrte Bewohnerin neulich genannt, erzählt Charlotte Wagner. Die 94-jährige Demenzkranke versuche auch, Mitarbeiter zu beißen. Und wenn sich zwei 80-jährige Bewohner um das Salz auf dem Mittagstisch streiten, werden auch mal Pflegerinnen angegriffen. „Manchmal benehmen sich alte Männer wie Kleinkinder.“

Pfleger leben mit Krankheit, Wahnsinn und Tod. Viele können den Job laut Betriebsräten nur noch machen, weil sie längst am Helfersyndrom leiden: Betroffene wollen dabei für die betreuten Personen eine Art ideales Elternteil sein.

Das Geld, das Charlotte Wagner am Monatsende nach Hause bringt, kann kaum der Grund sein, dem Job treu zu bleiben. Fachkräfte mit einer dreijährigen Ausbildung zum Alten- oder Krankenpfleger verdienen in den meisten Einrichtungen weniger als 1600 Euro brutto. Das sind rund 1100 Euro netto – bei 40 Stunden in der Woche. In Dänemark gibt es 1000 Euro mehr. Für Nachtschichten bekommt Wagner einen Euro Zuschlag pro Stunde, ebenso an Sonntagen. „Ich verdiene weniger als sieben Euro in der Stunde“, sagt sie. Heimbetreiber sagen, dass 70 Prozent der Ausgaben Personalkosten sind.

Wagner verdient noch relativ gut. Die Hälfte des Personals sind Pflegehelfer mit einjähriger Ausbildung. 800 Euro netto bekommen sie. Viele beantragen dazu Hartz IV, um über die Runden zu kommen. Wagner schüttelt den Kopf: in einigen Heimen werde nicht nur die Würde alter Menschen mit Füßen getreten.

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