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Gar nicht leise. Organistin Anna Vavilkina spielt die Kinoorgel im Babylon – auch jetzt zum Stummfilmfestival.

© Mike Wolff

Berlins Stummfilm-Organistin: Von Tuten und Blasen viel Ahnung

Mit ihrem riesigen Instrument erweckt Anna Vavilkina im Kino Babylon Stummfilme zum Leben. Am Donnerstag beginnt dort das 8. Stummfilm-Live-Festival.

Im großen Kinosaal im Babylon dirigiert sich Anna Vavilkina zum Spieltisch, dem Teil der Kinoorgel, der für die Zuschauer sichtbar ist. Sie schließt die Verkleidung auf und rollt sie hoch. Dutzende Register reihen sich an- und übereinander, Tasten – elfenbeinfarben, rot, schwarz, braun. Namen markieren die Klänge, die aus der Orgel ertönen: Vox Humana, Solo Saxophone, Gamba, Triangel. „Die Kombination der Register ist eine Wissenschaft für sich“, sagt Vavilkina.

Die Organistin setzt sich, zieht links und rechts Register, platziert ihre Füße zwischen den Pedalen und spielt los: „Dream a little dream of me“, Doris Days Schmachtsong weht durch das Kino am Rosa-Luxemburg-Platz. Wie ein leichter Traum wirkt auch das Spiel der Orgel, ein Instrument das komplizierter nicht sein könnte. Vavilkina schaut über ihre rechteckige Brille hinweg, leichtfüßig bewegt sie die Pedale, kontrolliert ihre Hände. Von der Triangel bis zur Pauke spielt sie alles auf einmal.

Vavilkina besuchte die Kinoorgel des Babylon im Urlaub, als sie noch Kirchenmusikerin in Köln war. Sie durfte die Orgel nicht nur begutachten, sondern gleich auf ihr zu spielen. Eine Woche später hatte sie während des jährlichen Stummfilmfestivals ihre Premiere, mit der Begleitung von Buster Keatons Kurzfilm „Balloonatic“. „Damals spielte niemand Festes an der Orgel“, erzählt die Enddreißigerin. Also fing sie an, samstags den „Stummfilm um Mitternacht“ zu begleiten. „Oft fuhr ich im Anschluss mit dem Nachtzug zurück nach Köln und spielte sonntags die Messe.“

Bei der Begleitung lässt sich Vavilkina von Notensammlungen der 20er und 30er Jahre inspirieren, aber sie spielt immer ohne Partitur. Während des Musikstudiums in Moskau spezialisierte sie sich auf Improvisation. Auch die Erfahrungen in der Kirche halfen ihr beim Spiel im Kino: „Wer jede Woche Kirchenmessen begleitet, muss improvisieren können.“ In Köln hat sie auch mal Karnevalslieder während der Messe gespielt.

Vor jedem Auftritt schaut die Organistin mindestens einmal den Film, zur Vorbereitung. „Ich merke mir Szenen, wo etwas Besonderes passiert.“ Wenn eine Figur die Treppe herunterpurzelt, muss sie im richtigen Moment das Holterdipolter spielen. „Zwanzig Minuten Laurel und Hardy zu begleiten ist schwieriger als ein langes Melodram.“ Wenn wenig passiert, ist dagegen die Herausforderung, das Publikum bei Laune zu halten.

"Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad"

Manchmal bringt Vavilkina bekannte Lieder unter, um das Publikum zu amüsieren. „Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad“ - ein Renner, erzählt sie lachend. „Aber natürlich passt das nicht in jeden Film.“ Pferdegetrappel, die Eisenbahn, eine Feuerglocke, der große Gong – diese Spezialeffekte bedient Vavilkina einfach vom Spieltisch aus. Sie drückt einen Hebel, schon ertönt das passende Geräusch zu der Szene auf der Leinwand.

Jetzt steigt Anna Vavilkina die Treppen hoch zum Kinosaal Drei. Hinter der Leinwand schiebt sie sich durch einen schmalen Gang. Hier steht der große Motor, der die Orgel antreibt. Links davon ist eine Tür. Tritt man hindurch, steht man mitten in der Kinoorgel, die 1929 von der Frankfurter Firma Philips gebaut wurde. Seitdem steht sie an ihrem Platz. „Vor dem Krieg gab es über 100 Kinoorgeln in Deutschland“, erzählt Anna Vavilkina. „Danach waren viele zerstört oder wurden auseinandergebaut und ihre Teile für Kirchenorgeln verwendet.“

Tisch mit Spezialeffekten

Sie erklimmt eine Holztreppe und zu ihrer Rechten türmen sich die Orgelpfeifen. Filigrane Drähte verbinden die Teile des Instruments mit dem richtigen Register oder Pedal. Dort steht auch der Tisch mit den Spezialeffekten: Hohle, kurze Holzrohre, auf die Holzbretter wie Pferdehufe klopfen. Fährt im Film eine Eisenbahn, rattert ein gebogener, fester Draht, auf einer genoppten Metallplatte entlang. Eine Glocke klingt, wenn die Feuerwehr alarmiert wird. Unter den Pfeifen stehen Pauken, die ebenfalls automatisch gespielt werden, sobald Anna Vavilkina das entsprechende Register zieht.

„Man müsste sie stimmen“, sagt sie, als sie vorsichtig aus der Orgel klettert. Dass sie noch erhalten ist, hat Berlin dem Tischler Hans Eichberg zu verdanken. Er widmete seine Zeit der Orgel, in den letzten Jahren gemeinsam mit Anna Vavilkina. Sie bediente unten die Taste, während er oben die Orgel reparierte. Doch Eichberg ist im März gestorben, 86 Jahre wurde er und ein guter Freund Vavilkinas. Nun fehlt die Symbiose zwischen Handwerker und Spielerin.

Am Donnerstag beginnt das 8. Stummfilm-Live-Festival im Babylon. Neun Orgel- und ein Klavierspieler treten beim Festival auf, auch aus England und den Niederlanden, wo die Kinoorgel eine größere Tradition hat. Vavilkina wird unter anderem vier „Fantômas“-Filme begleiten. Die französischen Detektivgeschichten wurden in der Verfilmung von 1964 mit Louis de Funès berühmt. Doch in der Stummfilmversion sind sie weniger komisch, eher mysteriös, wie bei Sherlock Holmes. Vavilkina, Deutschlands einzige festangestellte Kinoorgelspielerin, freut sich darauf, die Spannung auch mal mit einem Kirchenlied oder einer Bach-Kantate zu untermalen.

8. Stummfilm-Live-Festival im Babylon, Rosa-Luxemburg-Straße 30, 3. bis 18. August. Eintritt frei. www.babylonberlin.de/stummfilmlivefestival.htm

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