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Bernauer Straße

© Thilo Rückeis

Bernauer Straße: Gelebte Grenze

Die Bernauer Straße trennt zwei Lebenswelten. Im Süden wohnen die Aufsteiger, im Norden die Geringverdiener. Zueinander finden beide Gruppen selten.

Aaron Moulton aus Springfield, Illinois, wusste nicht, wo er war, als er vor einigen Monaten auf der Suche nach einer Wohnung zum ersten Mal in seinem Leben die Bernauer Straße überquerte. Er staunte über die niedrige Miete, die auf der Nordseite verlangt wurde, und die kleinen Elektroboiler in den Küchen. Auf der Südseite kosteten die Wohnungen fast das Doppelte, nannten sich Altbau, sahen aber viel moderner aus. Moulton zog für 650 Euro kalt in ein 85-Quadratmeter-Appartement auf der Südseite und mietete einen leer stehenden Feinkostladen für einen Freundschaftspreis auf der Nordseite.

Seitdem überquert der junge Galerist jeden Morgen die Bernauer Straße und den breiten Streifen Brachland, der an ihr entlangläuft, und wird das Gefühl nicht los, er sei der Einzige. "Aus meinem Haus geht sonst niemand über die Bernauer“, erzählt er. Eines Tages erfuhr Moulton, dass er jeden Morgen eine unsichtbare Grenze passiert, auf der früher einmal die Mauer stand.

Oben Aldi, unten Bioladen

Die Bernauer Straße trennt heute keine Systeme mehr, sondern Sozialstrukturen. Oben in Wedding wohnen die gering verdienenden Einwanderer aus der Türkei, Russland oder Palästina, unten in Mitte die gut ausgebildeten Ärzte, Anwälte und Schauspieler aus dem Westen Deutschlands und EU-Europa. Oben sinkt das Durchschnittseinkommen seit Jahren, unten steigt es. Oben ziehen die Omas ihre Handwägelchen hinter sich her, gefüllt mit Lebensmitteln von Kaiser’s und Aldi, unten laufen Frauen um die 30 in langen Lederstiefeln und taillierten Wollmänteln zum nächsten Bioladen. Oben heißen die Gaststätten "Brunnen-Quelle“, unten "Weltempfänger“ oder "Platzhirsch“. Oben ist hartkantiger Sozialwohnungsbau aus den Siebzigern, unten warm ausgeleuchtete Gründerzeitnostalgie.

Die oben im Norden haben mit denen im Süden nichts zu schaffen. Als die Mauer noch stand, gab es immerhin so etwas wie gegenseitiges Interesse.

Aaron Moulton passt gut nach Mitte. Seine grellweiße Galerie mit den wenigen Bildern und der großen Leere dazwischen ist allerdings eine Provokation. Türkische Kinder, erzählt Moulton, spucken manchmal im Vorbeigehen auf die großen Fensterflächen. Ihre Väter schauen so, als erwarteten sie jede Minute den Obstlaster vom Großmarkt, der den Feinkostladen endlich mit Ware füllt. Belebt ist die Galerie nur am Wochenende, wenn die Touristen kommen – auf ihrem Treck von der Mauergedenkstätte zum Mauerpark-Flohmarkt.

Ein Ort für Mauerarchäologen

Die Mauer ist das Schicksal der Bernauer Straße – und sie wird es auf den gut eineinhalb Kilometern zwischen der Gartenstraße und dem Mauerpark bleiben. Der ehemalige Kultursenator Thomas Flierl (Linke) hat die Erweiterung des Gedenkens auf den gesamten Straßenzug festgeschrieben. Im "Kernbereich I“ zwischen Gartenstraße und Strelitzer Straße bestünden "günstige Voraussetzungen dafür, die Zerstörung der Stadtlandschaft in diesem Wohngebiet ... zu dokumentieren". So steht es im Gedenkkonzept vom Juni 2006. Die Brache auf der westlichen Seite der Brunnenstraße solle als "historisches Sachdokument“ geschützt werden. Hier darf nichts verheilen und langsam zusammenwachsen. Ein Ort für Mauerarchäologen.

Oder für Grenzforscher wie Petra Langheinrich aus der Schwedter Straße, einer Frau um die 30, mit gelbschwarz-gemusterten Turnschuhen, gelber Steppjacke und zwei Kindern einer guten Freundin an der Hand. Für ein Filmprojekt erforscht sie die Grenze zwischen Friedrichshain und Kreuzberg und ist ganz begeistert von der kulturökonomischen Dynamik beider Uferzonen. Die Bernauer Straße, nun ja, funktioniere ganz anders, eher wie eine natürliche Barriere.

"Rüber" geht kaum jemand

Tagsüber quert Langheinrich die Bernauer, um im Baumarkt, beim türkischen Gemüsehändler oder im Bastelladen einzukaufen, nachts meidet sie die Gegend. "Dort hängen Leute rum, denen ich nicht traue“, sagt sie. Ihre beste Freundin habe sich mal eine Wohnung im Brunnenviertel angeschaut – niedrige Decke, dunkler Balkon, langer Flur – und ihr dann gesagt: "Da kann ich nicht wohnen“. Einige stellen "drüben“ ihre Autos ab, wenn vor ihrer Wohnung am Arkonaplatz wieder alles verstopft ist. "Drüben“ sagen sie heute auf beiden Seiten der Bernauer Straße. Es klingt noch wie früher.

Damals, vor rund 40 Jahren, entstand im Norden das "größte Sanierungsgebiet Europas“. Sanierung bedeutete in jener Zeit abzureißen und neu aufzubauen, die Häuser quer zur Straße und höher, mit viel Grün dazwischen, mit verkehrsberuhigten Zonen, Spielplätzen, großen Innenhöfen mit Bänken. Junge Familien zogen ein, genossen den Wohnkomfort mit Zentralheizung und Fahrstuhl. Auf der anderen Seite im Süden war kein Geld da für großflächige Abrisssanierung. Erst mussten die Trabantenstädte in Marzahn und Hellersdorf fertig werden. Die alten Mietskasernen im Zentrum verfielen.

Gegen die Verwahrlosung

Als die Mauer fiel, schlug das Wohlstandspendel zurück in den Süden. Nach 18 Jahren sind fast alle Häuser saniert. Leute mit Bildung und solidem Einkommen sind eingezogen, freuen sich an hohen Decken, schweren Holztüren und verzierten Türgriffen. Zwischendrin stehen Neubauten mit breiten Glasfronten zur Straße. Weil Gardinen immer noch als spießig gelten, kann man abends glücklichen Kleinfamilien beim Abendbrot in der Designer-Wohnküche zusehen.

Einige dieser arrivierten Mitte-Familien gehen manchmal in Wedding spazieren, im Sommer, wenn es südlich der Bernauer zu heiß und zu eng wird. Dann kommen sie auch zu Anke Becker-Syed ins "Familiencafé Spielzeit“ am autofreien Abschnitt der Swinemünder Straße. Das Café mit Bücherregal und selbstgebackenem Kuchen würde wunderbar nach Mitte passen, hier in Wedding wirkt es wie ein Fremdkörper. Die arabischen und türkischen Frauen brauchen so was nicht. Die deutschen Frauen im Viertel haben ihre Kinder längst großgezogen. Becker-Syed, eine Frau in den 40ern, mit glatten schwarzen Haaren, in denen eine Brille klemmt, weiß nicht, ob sie das Café noch lange halten kann. "Ich finde das so schade.“

Das Café gehört zum Projekte-Netzwerk des "Stadtteilmanagements Brunnenviertel“. Gegen die drohende Verwahrlosung stemmen sich fünf Mitarbeiter, zusammen mit dem größten Vermieter im Kiez, der DeGeWo. Es geht vor allem um Sprachförderung – in den Familien und auf den Schulhöfen wird selten Deutsch gesprochen.

Kinderboom im Süden

Drüben, im dicht bebauten Ortsteil Mitte, gibt es nur den Arkonaplatz – der ist im Sommer von Kindern übersät. Die Kinderzahl steigt rapide, obwohl das Viertel nicht gerade familiengerecht angelegt ist. Und weil die Grundschulen mittlerweile ausgebucht sind, sollen einige Kinder jetzt "drüben“ in Wedding eingeschult werden, dort, wo mitunter 70 bis 80 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund haben. Dagegen wehren sich die betroffenen Akademiker-Eltern massiv. Sie sind nach Berlin-Mitte gezogen, und wollen nicht Teil eines Sozialprojektes mit ungewissem Ausgang sein.

Das Queren der Bernauer Straße ist seit Mai 2006 übrigens deutlich gefährlicher geworden. Trams der Linie M 10 sausen seither fast geräuschlos zwischen den Autos auf sanierten Trassen von Ost nach West. Vorher war hier eine laute, aber fußgängerfreundliche Kopfsteinpflasterpiste.

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