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Berlin: Berührt vom Baby

Seelsorgerin Beate Violet betreut Eltern, die ihre Kinder verloren haben. In diesen Tagen ist das schwer.

Manchmal verdrängen Frauen ihre Schwangerschaft. So beginnt Beate Violets Weihnachtsgeschichte. Sie kannte eine Frau, die selbst im neunten Monat nicht ahnte, was mit ihr los war. Doch irgendetwas trieb sie dazu, sich ins Auto zu setzen und loszufahren. Auf einem Parkplatz begannen die Wehen.

Beate Violet kommt gerade aus dem Kreißsaal, nachher muss sie weiter in die Psychiatrie und später noch eine Predigt schreiben für Eltern, die ein Kind verloren haben. Sie ist evangelische Pfarrerin und Seelsorgerin in der Charité in Mitte und steht vielen Frauen im Geburtszentrum, in der Gynäkologie und der Neonatologie bei, wo zu früh geborene und kranke Säuglinge betreut werden. Sie kennt die Nöte von Schwangeren, die eine Fehlgeburt haben, sie weiß um den Schock, wenn eine angehende Mutter erfährt, dass das Kind nicht gesund ist und womöglich sterben wird. Sie fühlt mit, wenn ein Kind zu früh geboren wird.

„Das Kind ist ein Teil von Ihnen“, sagt sie den Müttern und Vätern und hilft ihnen, den Kontakt zu ihrem Kind nicht zu verlieren, auch wenn es tot ist. Die Eltern sitzen dann auf dem Sofa in Beate Violets Besprechungszimmer im Erdgeschoss eines roten Backsteinbaus. „Vielen hilft es beim Trauern, wenn sie ihr Kind genau betrachtet haben, die Händchen, die kleinen Füße“, sagt Beate Violet, auch wenn es erst einmal sehr weh tue. Es sei wichtig, das Baby kennengelernt, es berührt und beim Namen genannt zu haben, sei es auch nur für einen Augenblick. In der Weihnachtszeit sei es besonders schwer, um ein Kind zu trauern. „Die Sehnsucht nach heiler Welt, nach Zusammengehörigkeit, nach Zukunft verdichtet sich in diesen Wochen“, sagt die Seelsorgerin. Sie fragt die trauernden Väter und Mütter, wie sie die Weihnachtstage verbringen möchten. Zu zweit? Mit der Großfamilie? Mit Freunden? Sie rät, die Zeit bewusst zu gestalten und sich nicht treiben zu lassen von den Wünschen der anderen. Und sich nicht zu überfordern. Trauern ist anstrengend, es nimmt den ganzen Körper und die Seele in Anspruch.

„Ich habe Gott im Gepäck“, sagt Beate Violet. Klar, sie ist ja Pfarrerin. Sie möchte den Eltern aber nichts aufdrängen, sondern einfach da sein, wenn die Fragen nach dem Großen und Ganzen aufbrechen: Wo geht das Kind hin? Ist es in der Liebe Gottes aufgehoben? Sie schaut den Menschen in die Augen und strahlt so viel Lebensfreude und Energie aus, auch wenn sie ganz still sitzt und nur zuhört. Es gibt ja auch die glücklichen Geburten. „Da freue ich mich jeden Tag aufs Neue mit.“

Um sich nicht zu sehr vom Leid der anderen mitreißen zu lassen, schaffe sie immer wieder bewusst Abstand. Dann trifft sie Freunde, singt, hört Musik. Der Glaube an Gott, der trage sie auch sehr. „Ich fühle mit den Menschen mit“, sagt sie, „und muss mir doch immer wieder klarmachen, dass das meine Rolle ist, dass es nicht um mein eigenes Leben geht“.

Auch bei den Krankenschwestern auf den Stationen wachse im Advent die Sehnsucht nach einer heilen Welt. Sie schmücken die Flure, stellen Weihnachtsbäume auf. Manche einsamen Menschen sind jetzt froh, im Krankenhaus zu sein. Hier kümmert sich jemand um sie. Andere fühlen sich hier erst recht alleine und grübeln darüber nach, ob es noch einmal gut wird mit ihnen. „Alle Menschen denken darüber nach, welchen Sinn sie ihrem Leben geben“, sagt Beate Violet. Viele gingen davon aus, dass noch etwas auf sie wartet, etwas, das größer ist als das alltägliche Einerlei.

Beate Violet ist 52 Jahre alt, in ihrem ersten Beruf war sie Kinderkrankenschwester. Sie kennt die Abläufe auf den Stationen, sie arbeite gut mit den Schwestern und Ärzten zusammen, sagt sie. „Sie sind froh, dass sich jemand der erschrockenen, verunsicherten und verängstigten Seelen annimmt.“ In ethischen Fragen sei man sich meistens einig. „Mir ist es ein Anliegen, dass eine Schwangerschaft nur dann zu einem späten Zeitpunkt abgebrochen wird, wenn es wirklich keine andere Lösung gibt“, sagt Beate Violet. Dass Eltern sich eine Abtreibung leicht machen, das habe sie noch nie erlebt.

Beate Violet muss los, aber erst will sie noch schnell ihre Weihnachtsgeschichte zu Ende erzählen: Die Frau, die ihre Schwangerschaft verdrängt hatte, wurde gerettet. Viele fuhren vorbei, als sie um Hilfe rief, damals auf dem Parkplatz. Doch ein Mann hielt an und rief den Krankenwagen. Das Kind wurde mit Hilfe der Ärzte geboren. Und dann begann für die Krankenhausseelsorgerin die Arbeit. Die Frau wollte ihr Kind nicht annehmen, schämte sich. Beate Violet brachte sie dazu, dass sie anfing, über sich und die Schwangerschaft zu sprechen. Und irgendwann traute sie sich, bei der Familie anzurufen und ihnen davon zu erzählen. Die frisch gebackenen Großeltern freuten sich riesig und holten Mutter und Kind nach Hause. Alle Ängste der jungen Frau waren unbegründet. Es war kurz vor Weihnachten. Sie haben das Kind Gabriel genannt – nach dem Engel, der Maria ankündigte, dass sie Jesus zur Welt bringen werde. Claudia Keller

Claudia Keller

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