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© Kai-Uwe Heinrich

Bevölkerung der Hauptstadt: Berlin baut um

Fast jeder zweite Berliner kam erst nach dem Mauerfall in die Hauptstadt: Neue Lebensmodelle, mehr Ausländer und schärfere Grenzen zwischen Arm und Reich – so hat sich die Stadt seit 1995 verändert.

Neue Wohlstandsinseln, wachsende Armut an anderen Orten, Ängste, Konflikte und Reibungen – Berlin hat sich seit dem Mauerfall völlig verwandelt. In keiner anderen Stadt Deutschlands hat es einen so grundlegenden Umbruch gegeben. Fast die Hälfte der Bevölkerung hat sich verändert – jährlich ziehen 120 000 Menschen her, fast ebenso viele wieder weg. Und Berlin ist ein großes Labor großstädtischen Lebens – mit akuter Absturzgefahr für Problembezirke. Denn nirgendwo sonst sind die Verhältnisse so prekär, ist der Wandel so beständig. Viele Berliner leben, lieben und arbeiten in Abschnitten – der eine Entwurf für ein ganzes Leben ist passé.

Die wichtigste Nachricht: Die Zahl der Berliner steigt seit 2005 wieder leicht. Das ist vor allem Zuwanderern aus dem Ausland zu verdanken. Sie kommen aus Polen oder Afrika, aus der Russischen Föderation oder Vietnam, um in Berlin zu leben und zu arbeiten. Nur deshalb schrumpft die Stadt nicht mehr. Denn in Berlin leben in den Haushalten immer weniger Kinder. Trotz der Frischzellenkur durch die Zuwanderer altert die Stadt deshalb zügig: Der Durchschnittsberliner ist derzeit 42 Jahre alt.

Die zweite wichtige Nachricht: Die Gegensätze in der Stadt werden schärfer. Es herrscht die Konkurrenz des Marktes, wo früher staatliche Subventionen die sozialen Probleme abmilderten. Deshalb können sich viele Menschen die Wohnungen in zentralen Stadtteilen wie Mitte, Charlottenburg oder Prenzlauer Berg nicht mehr leisten – sie werden von Jüngeren, Besserverdienenden, verdrängt. Nun drohen soziale Probleme am Rand der Stadt, besonders in den Großsiedlungen. Wer kann, zieht weg – es bleiben vor allem Empfänger staatlicher Hilfen. Abgerutscht sind auch innerstädtische Viertel in Neukölln, Wedding und Tiergarten. Hier leben besonders viele Menschen, die ohne berufliche Ausbildung keine Chance auf einen Arbeitsplatz haben und auf staatliche Hilfe zum Lebensunterhalt angewiesen sind. Überdurchschnittlich ist dort auch die Zahl der Ausländer und Migranten. Für sie ist der soziale Aufstieg besonders schwer. Arbeitnehmer aus dem Ausland verdienen in Berlin durchschnittlich zwanzig Prozent weniger als Deutsche.

Oft sind die Migranten aber auch jünger und haben mehr Kinder. In Quartieren mit besonders vielen Ausländern gibt es in einigen Schulen kein einziges Kind mehr mit deutscher Muttersprache. Das wirft Schüler ausländischer Herkunft beim Spracherwerb noch stärker zurück – und es verbaut ihnen den Einstieg ins Berufsleben.

Auch die Lebensmodelle in Berlin haben sich grundlegend verändert: Es gibt immer mehr Single-Haushalte, Alleinerziehende oder PatchworkFamilien. Viele von ihnen wollen im Zentrum leben, weil sie Cafés und Kneipen, aber auch Kitas und Freunde hier haben – das erleichtert das Navigieren durch die Lebensabschnitte. Deshalb ist das Wohnen im Grünen im eigenen Heim für immer weniger Berliner ein Lebensmodell: Man will und kann es sich nicht mehr leisten. Weil das Geld fehlt. Und weil Arbeit und Partner öfter mal wechseln.

Der Tagesspiegel hat für diesen Überblick alle verfügbaren Daten des Statistischen Landesamtes, des Mikrozensus, des Senats und der Gesellschaft für Konsumforschung zusammengetragen und aufgearbeitet – Letzteres war schon deshalb notwendig, weil es für 2007 erst wenige Daten gibt oder die Zahlen nur für die 2001 gebildeten zwölf Großbezirke vorliegen. Den besseren Überblick bieten aber die detaillierteren Angaben zu den 23 Altbezirken.

Blühende Landschaften im neuen Osten

Das ist seit der Gründerzeit so: Wer es sich leisten kann, der verlässt die dichte Innenstadt und zieht an den grünen Stadtrand. Dort hat fast jeder Arbeit, und nur wenige fürchten um ihren Job. Die Einkommen liegen über dem Durchschnitt, und deshalb leistet man sich hier hohe Mieten oder kauft ein eigenes Haus. Die jährliche Kaufkraft pro Einwohner beträgt in diesen Lagen über 20 000 Euro, so die Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung. Das sind zehn Prozent mehr als im Berliner Durchschnitt, so das „GfK Geomarketing“. Doch auch hier ist die Stadt im Wandel: Alt-Stralau in Friedrichshain-Kreuzberg zählt erst seit wenigen Jahren zu den Toplagen Berlins. Aus dem 1990 noch tristen Hafengebiet wurde ein beliebtes Wohnquartier. Wasser und Uferwege locken die Menschen hierhin. Ähnliches gilt für die neuen Spandauer Quartiere Kladow, Alt-Gatow oder Hohengatow. Dabei zählen die Bezirke Spandau und Kreuzberg insgesamt zu den schwierigsten der Stadt. Beste Lagen entstanden auch im problematischen Bezirk Marzahn-Hellersdorf: Mahlsdorf-Süd oder -Nord zum Beispiel. In die kleinteiligeren Stadtrandsiedlungen zogen Bewohner der nahe gelegenen Plattenbauten. Dagegen zählt der Südwesten Berlins, große Teile von Dahlem und Zehlendorf, immer schon zu den besten Vierteln. Das Reich der weißen Villen und grünen Grundstücke beginnt am Ende des Kurfürstendamms: in der Koenigsallee.


Die Verlierer unter den Quartieren

Ganze Bezirke trifft es selten; einzelne Quartiere drohen eher umzukippen, weil dort wegzieht, wer kann. Als Orte hoher „Fluktuation“ bezeichnen es die Forscher, in schwierigen Quartieren geht sie einher mit hoher Arbeitslosigkeit und einer hohen und noch steigenden Dichte an Sozialhilfeempfängern. Das ist naheliegend: Wo niemand wohnen will, sind die Mieten günstig, und es bleibt, wer sich nichts anderes leisten kann. Der Kaufkraftindex in diesen Quartieren liegt 15 Prozent unter dem Berliner Durchschnitt, meldet die Gesellschaft für Konsumforschung. In Neukölln gibt es besonders viele gefährdete Kieze: die Bereiche Grenzallee, Rathaus Neukölln, Dammweg und Leinestraße zum Beispiel. Im Stadtteil Wedding sind es der Gesundbrunnen, der Humboldthain, die Reinickendorfer Straße, der Bereich Rathaus Wedding und der Soldiner Kiez. Die Abwärtsspirale erfasst aber auch Quartiere, von denen man es nicht erwartet hätte: den Mariannenplatz in Kreuzberg oder den Nollendorfplatz in Schöneberg etwa, wo man sich trifft und wo das Nachtleben tobt, weil die Kneipendichte hoch ist. Noch schlechter sind die Perspektiven gefährdeter Quartiere am Stadtrand: in den Großsiedlungen von Marzahn-Hellersdorf. Sie sind zu weit vom Zentrum entfernt, um Künstler und Kneipiers anzulocken, die Aufwind versprechen.


Pariser Verhältnisse drohen

Die Häuser haben zehn Geschosse und mehr, hier wohnen viele tausend Menschen: Die Berliner Großsiedlungen, früher hochmodern, sind heute Refugien von Menschen mit kleinen Einkommen. „Anfang der 90er Jahre waren sie noch für die Mittelschicht attraktiv“, sagt Wolfgang Bohleber, Vorstandsvertreter des Verbandes Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen. Doch heute leben in den rund 100 000 Sozialwohnungen der Großsiedlungen überwiegend Menschen, die aus Prenzlauer Berg oder Charlottenburg verdrängt wurden, weil die Mieten dort stiegen. Mancher fürchtet, dass dort irgendwann Pariser Verhältnisse drohen: schwer regierbare Vorstädte. Betroffen sind vor allem Quartiere im Westen: die Gropiusstadt in Neukölln, das Märkische Viertel in Reinickendorf, die Siedlung Heerstraße-Nord in Charlottenburg, das Falkenhagener Feld in Spandau, die John-Locke-Siedlung in Tempelhof. Errichtet in den 70er Jahren, waren sie auf die typische Kleinfamilie zugeschnitten: kleine Küchen, kleine Bäder, kleine Kinderzimmer sowie Wohn- und Schlafzimmer für die Eltern. „Die Lebensformen haben sich völlig verändert“, sagt Bohleber. Wolle man die Großsiedlungen retten, müsse man sie umbauen und zuschneiden auf Singles mit oder ohne Kinder, Patchwork-Familien, aktive Senioren oder betagte Rentner, die Wohnungen ohne Hindernisse brauchen.

Beschleunigter Wandel

Hundert Umzüge pro Tag, 40 000 Fort- und Zuzüge im Jahr – in keinem anderen Stadtteil verändert sich die Bewohnerschaft so schnell wie in Prenzlauer Berg. Dem Stadtsoziologen Andrej Holm zufolge hat sich die Zahl der Abiturienten und Hochschulabsolventen im Kiez seit Anfang der 90er Jahre verdoppelt. Berlinweit stieg diese Zahl nur um 20 Prozent. Am Kollwitz- und am Helmholtzplatz sind heute drei Viertel aller Anlieger Akademiker. Die neuen Bewohner kamen als Studenten und sind heute im besten Alter: Mehr als die Hälfte aller Bewohner ist zwischen 25 und 45 Jahre alt – 1991 waren es nur 37 Prozent. Das erklärt auch den Babyboom im geburtenreichsten Stadtteil Berlins. Außerdem verdienen die jungen Akademiker ordentlich: Lag das durchschnittliche Haushaltseinkommen 1991 noch 20 Prozent unter dem Durchschnitt von Ostberlin, liegt es heute fünf Prozent über dem Berliner Mittelwert. Der rasante Aufstieg hat aber seinen Preis: die Gentrifizierung, die Verdrängung von älteren, bildungsferneren, weniger zahlungskräftigen Bewohnern. Drei Sanierungswellen steigerten die Mieten im Quartier zunächst langsam, weil es noch Förderungen gab, dann rasant, weil mangels Subventionen jetzt hohe Mieten oder Wohnungsverkäufe Renditen bringen müssen. Eine weitere Besonderheit des Stadtteils: Wer als Student kam, zieht auch nicht weg, wenn er Kinder hat. „Der Stadtteil ist zwar nicht kinder-, dafür aber elternfreundlich“, sagt Holm. Die Eltern nämlich wollen auf die Vorteile innerstädtischen Lebens nicht verzichten.


Kreative Experimente im Zentrum

Nordneukölln blüht auf. Kneipen und Galerien öffnen in der Friedel- und der Braunschweiger Straße, und das „Freie Neukölln“ in der Pannierstraße wird von Mittzwanzigern überrannt. Dabei galt bisher: Wer es sich leisten kann, zieht da weg, sogar besserverdienende Migranten. Jene, die übrig blieben, prägten das Bild. Wegen der Fortzüge sanken die Mieten, und das war eine Voraussetzung für den Umschwung: „Am Anfang ziehen oft Studenten in solche Quartiere, weil sie sich teure Lagen nicht leisten können, aber nahedran sein wollen“, sagt Politikwissenschaftler Volker Eick. Nordneukölln grenzt an die beliebten Quartiere von Kreuzberg und Friedrichshain. Und Kiezmanager schaffen Freiräume: Sie überzeugen Hauseigentümer, den Zugezogenen leere Gewerbeflächen für wenig Geld zu überlassen. Diese öffnen Kneipen, Cafés, Galerien. Auf die Kneipen folgen Boutiquen, Design- und Feinkostläden. Dann steigen Preise und Umsätze, aber auch die Mieten der Läden. Bald wird es schick, im Kiez zu leben, aber nicht jeder kann es sich leisten – so wie in Prenzlauer Berg heute. In Neukölln beginnt gerade erst diese Entwicklung, die rund um die historische Stadtmitte herum wie der Zeiger auf einer Uhr verläuft: vom Norden (Prenzlauer Berg) über den Osten (Friedrichshain) nach Süden (Neukölln).


Das multikulturelle Berlin

Immer mehr Ausländer leben in Berlin, rund 473 000 sind es heute. Jeder siebte Berliner stammt nicht aus Deutschland – im Jahr 1991 war es nur jeder zehnte. Mit der steigenden Zahl der Ausländer wächst auch die kulturelle Vielfalt Berlins: Bis zur Wende war die Stadt „bikulturell“ geprägt, wegen der vielen Berliner mit türkischem Pass. Nach der Öffnung der Grenzen in Europa wurde die Stadt zu einer multikulturellen Metropole: Von 1995 bis heute stieg die Zahl der Neuberliner aus Nachbarländern der Europäischen Union um 35 000 Menschen. Die meisten kommen aus Polen: über 45 000 sind es heute. Stark vertreten sind auch Italiener (14 251), Franzosen (12 263), Griechen (10 109) und Briten (9559). Von außerhalb der EU zog es viele Menschen aus Serbien und Montenegro (24 757) her, aus der Russischen Föderation (14 005), aus den USA (12 556) und aus Vietnam (11 298). Die größte nationale Gruppe sind mit Abstand die Türken (117 736), jeder vierte Ausländer. Im Vergleich zu anderen Großstädten ist die Ausländerquote in Berlin gering (14 Prozent): Deutlich höher ist sie in Hamburg (15 Prozent), in Köln (17,5 Prozent), in München (23 Prozent) oder in Frankfurt am Main (25,7 Prozent).


Soziale Probleme, keine Parallelwelten

Als Kreuzberger Jugendliche mit Migrationshintergrund vor einem Jahr die Festnahme von Freunden verhindern wollten, gab es eine Debatte über die „Unregierbarkeit“ von Stadtteilen. Gilt bald „das Recht der Straße“ in Teilen von Kreuzberg oder Neukölln, wo besonders viele Ausländer leben? Der Historiker Klaus Bade sieht diese Gefahr nicht. Er hält dies sowie die Rede von Parallelwelten für „Paniksemantik“. Ähnlich sieht das der Soziologe Hartmut Häußermann von der Humboldt-Universität und rechnet vor: Die größte Ausländergruppe Berlins, die Türken, stellen allenfalls ein Viertel der Bewohner in den von ihnen geprägten Quartieren: am Kreuzberger Mariannenplatz, in der Putlitzstraße in Tiergarten (22 Prozent), am Moritzplatz (22 Prozent), in der Reinickendorfer Straße in Wedding (19 Prozent) oder am Rathaus Neukölln (17 Prozent). „Zählt man Ausländer anderer Herkunftsländer dazu, kommt man auf höchstens 40 Prozent“, sagt Häußermann. Ausländer verschiedener Ethnien und Kulturen bildeten aber keine homogene Gruppe, weil diese sich untereinander ebenso abgrenzten wie von den Deutschen. Die einzelnen nationalen, ethnischen oder religiösen Gruppen lebten nebeneinander, aneinander vorbei. Soziale Probleme entstünden dann, wenn sich in einem Quartier „Gruppen mit niedrigem Bildungsstand, geringem Einkommen und prekärer beruflicher Situation“ konzentrieren – egal ob aus Deutschland oder aus dem Ausland. Und darüber entscheide der Wohnungsmarkt: „Die Reichen wohnen, wo sie wollen, die Armen, wo sie müssen“, so der Forscher.


Die Stadt altert – aber nicht überall

In der Hauptstadt gibt es immer weniger Kinder – die Stadt altert. 42 Jahre ist der Durchschnittsberliner alt. Tendenz steigend. Der Anteil der Rentner an der Bevölkerung wuchs seit 1995 um über 20 Prozent: Rund 580 000 Berliner sind heute im Rentenalter. Dramatisch ist die Entwicklung im Bezirk Marzahn-Hellersdorf. Hier wohnen heute eineinhalbmal mehr Menschen über 65 Jahre als 1991. Zugleich zogen viele junge Menschen weg: Ende 2006 lebten dort nur noch halb so viele unter 20-Jährige wie 1991. Immer weniger Kinder gibt es auch in Zehlendorf, rund 2000 Kinder unter drei Jahren – das sind 25 Prozent weniger als drei- bis sechsjährige Kinder (2500). Ganz vorne unter den kinderreichen Stadtteilen liegt Prenzlauer Berg, wo 5145 Kinder bis drei Jahre gezählt wurden, dicht gefolgt vom größeren Stadtteil Wedding (5251 Kleinkinder). Verjüngt sind auch Friedrichshain und Mitte: Dort gibt es heute sogar mehr Kleinkinder als zehn- bis fünfzehnjährige Jugendliche.


Migrantenmehrheit in den Schulen

Das gab es in den 90er Jahren noch nicht: Kein einziger deutscher Schüler besucht mehr die Kreuzberger Eberhard-KleinHauptschule. Und in einigen Grundschulen sprechen neun von zehn Schülern eine „nichtdeutsche Herkunftssprache“. In der Otto-Wels-Grundschule in der Kreuzberger Moritzstraße (88,8 Prozent), in der Kurt-Tucholsky-Grundschule in der Tiergartener Putzlitzstraße (82 Prozent) oder in der BruderGrimm-Grundschule in der Reinickendorfer Straße in Wedding (82,4 Prozent). Diese Schulen liegen alle in Quartieren, in denen das Land Berlin mit Kiezmanagern eingreift, weil viele Bewohner wenig verdienen, arbeitslos und auf staatliche Hilfen angewiesen sind. Die Ausländer aber stellen dort nirgendwo die Mehrheit so wie ihre Kinder in den Schulen. Das erklären Stadtforscher so: Migranten sind oft jünger und haben mehr Kinder als Deutsche. Wenn Deutsche in einem Kiez mit migrantengeprägten Schulen leben, ziehen sie fort, wenn sie Kinder bekommen, weil sie um deren Start- und Karrierechancen fürchten. Das hat Folgen für die Migrantenkinder. Ohne Kontakt zu deutschen Schülern wächst der Abstand beim Erwerb von Sprache und Bildung – und das verbaut oft den Einstieg in den Beruf.

Leben und Arbeit im Gleichgewicht

Das Zentrum Berlins ist kinderfeindlich: kleine Wohnungen, dichte Häuserzeilen, kaum Grün, laute Kneipen, viele Autos. Dennoch werden hier – und nicht in Mariendorf oder Marzahn – berlinweit die meisten Kinder pro Einwohner geboren. Denn hier leben die meisten Paare im entsprechenden Alter. Viele kamen in den 90er Jahren zum Studieren, und da bot das Zentrum noch billige Wohnungen. Heute sind sie Mitte 30. Sie haben oder wollen Kinder, sie sind aber auch oft selbstständig oder haben befristete Verträge. Diese prekären Beschäftigungsverhältnisse erschweren den früher üblichen Fortzug an den Stadtrand, wenn Kinder kommen. Einen Schuldenberg für das Eigenheim riskiert man nicht, wenn der Job befristet ist und der Lebensabschnittspartner auch mal wechselt. Außerdem „sind es meistens Akademikerpaare, die das städtische Angebot suchen. Ein Vorstadtleben kommt für sie nicht in Frage“, sagt der Soziologe Hartmut Häußermann. Die jungen Berliner Eltern probieren ein neues Gleichgewicht zwischen Arbeit und Leben. Die einst übliche Rollenverteilung in der bürgerlichen Vorstadt – Mutter hütet das Haus und bespielt die Kinder, während Vater arbeitet – wollen und können sich die jungen Paare heute nicht leisten.


Prekäre Arbeitsverhältnisse

Immer mehr Berliner haben keinen Job, das war der Trend seit Jahren. Ist nun die Talsohle erreicht? Mit einem Plus von 1,7 Prozent bei der Beschäftigung war Berlin im Vorjahr Spitze unter allen Bundesländern. Die gute Nachricht täuscht allerdings über den grundlegenden Wandel auf dem Berliner Arbeitsmarkt hinweg: Es gibt immer weniger reguläre Jobs, und immer mehr Berliner gehen nicht sozialversicherungspflichtiger Arbeit nach. Sie schlagen sich als Selbstständige durch oder als „marginal Beschäftigte“ in „Ein-Euro-Jobs“ oder Beschäftigungsmaßnahmen. Würden diese prekären Arbeitsverhältnisse nicht mitgezählt, dann wäre die Zahl der Arbeitnehmer im Jahr 2006 um über zwei Prozent zurückgegangen. Das war der Trend in der vergangenen Dekade: Die Beschäftigung nahm von 1,55 Millionen Erwerbstätigen im Jahr 1995 auf heute 1,36 Millionen ab. Und immer mehr Berliner brauchen staatliche Hilfen: 567 000 sind es heute, gegenüber 410 000 im Jahr 1995.

Die Stadt der Alleinerziehenden

Immer weniger Familien mit Kindern gibt es in Berlin: Derzeit sind es 441 000, 75 000 weniger als im Jahr 1995. Nur bei ausländischen Familien ist es umgekehrt. Deren Zahl nahm um 550 zu auf fast 87 000. Die klassische Familie ist für immer weniger Menschen ein Lebensmodell, und es werden immer weniger Ehen geschlossen. Waren es 1995 noch rund 16 000, sind es im Jahr 2005 nur noch 12 000. Drastisch stieg auch die Zahl der Alleinerziehenden: von knapp 174 000 im Jahr 1995 auf 206 000 im Jahr 2004. Darunter sind auch immer mehr Väter: Knapp 38 000 waren es in Berlin im Jahr 2004, 11 000 mehr als zehn Jahre zuvor.

Arm und Reich – die Gegensätze nehmen zu

Der Markt spaltet Berlin: Gebildete Besserverdienende auf Wohlstandsinseln und Ärmere ohne Ausbildung in sozialen Enklaven. In Neukölln haben heute 60 Prozent mehr Menschen als 1995 keine Ausbildung, die Zahl der Arbeitslosen stieg seitdem um 40 Prozent, und das Nettoeinkommen der Haushalte schrumpfte sogar. Extrem ist auch die Entwicklung in Marzahn-Hellersdorf, wo heute fast doppelt so viele Menschen ohne Ausbildung wie 1995 leben, wo die Arbeitslosigkeit stieg, die Einkommen schrumpften und nur noch halb so viele Haushalte wie 1995 Kinder haben. Der Altersdurchschnitt im Bezirk sprang von 33 Jahren auf 41 Jahre – kein anderer Bezirk altert schneller. Ein hohes Durchschnittsalter ist aber nicht immer Zeichen von Armut: Bewohner von Steglitz-Zehlendorf sind im Durchschnitt 45, drei Jahre älter als der Durchschnittsberliner. Aber in keinem Bezirk gibt es weniger Arbeitslose, nirgendwo steigt die Zahl der Bewohner ohne Ausbildung langsamer, während die Einkommen überdurchschnittlich steigen.

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