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Marcel Reich-Ranicki (1920 - 2013)

© promo

Aus Volker Weidermanns neuem Buch: Danke, Marcel Reich-Ranicki!

Volker Weidermann bedankt sich in seinem Buch "Dichter treffen" bei Marcel Reich-Ranicki. Als Leseprobe hier ein Ausschnitt aus dem Kapitel über den Gründer des "Literarischen Quartetts".

Ich habe ihn zum ersten Mal persönlich erlebt im Frühjahr 1994, als er in der Aula der Heidelberger Universität eine Rede auf Friedrich Schlegel hielt. Es waren mehr als tausend Studenten gekommen, sie saßen auf der Empore, in den Gängen, überall. Bevor er richtig anfing, erzählte er von seinen Zweifeln auf der Fahrt hierher. »Ich habe mir gedacht: Hast du doch einen Fehler gemacht. Es kommt doch sicher keiner. Hättest du mal eine Rede über Heine und die Lieder, Kafka und die Liebe oder Thomas Mann und die Knaben angekündigt. Dann wäre das Haus sicher voll gewesen. Aber Schlegel?« Und er lachte, und der ganze überfüllte Saal lachte mit. Es war egal, worüber er sprach. Wir vertrauten ihm voll und ganz. Es würde geistreich werden und interessant. Es war der beste Vortrag, den ich während meines Studiums hörte.

Natürlich hatte er, als er eine Stunde lang über Friedrich Schlegel sprach, vor allem auch über sich selbst gesprochen. »Rückblickend schrieb er, es sei sein vorzüglichster Wunsch gewesen, ›der großen Kluft, welche immer noch die literarische Welt und das intellektuelle Leben des Menschen von der praktischen Wirklichkeit trennt, entgegenzuwirken ...‹« Das war ja sein eigenes Programm. Und auch wenn er über die Jüdin Dorothea, die später Schlegels Frau werden sollte, spricht, denkt er sicher auch an sich. Denn sie, so Reich-Ranicki, »zeichnete sich durch eine Eigenschaft aus, die oft bei Juden auffällt, sei es günstig, sei es ungünstig, und die zur Folge hat, dass sie, die Juden, für manche Menschen in ihrer Umgebung nicht so leicht erträglich sind, und ihnen vielleicht sogar auf die Nerven gehen, dass sie aber von anderen aus demselben Grund für äußerst attraktiv gehalten werden. Was ich meine, lässt sich mit Worten wie ›Intensität‹ oder ›Heftigkeit‹ andeuten.«

Oh ja. Immer intensiv. Immer heftig. Im »Literarischen Quartett« haben ihn Millionen so erlebt. Seine Widerreden, sein Zeigefinger, sein Klopfen auf die Sessellehne, »Das ist gut! Das ist sogar sehr gut!«, seine Empörung, seine Begeisterung. Wenn es um Literatur ging. Er gab der Literatur ja überhaupt erst diese Bedeutung, dadurch, dass jeder, der ihn las, jeder der ihn sah, sofort spürte, dass es jedes Mal um alles ging, um Überlebensfragen. Auch in der Ablehnung von Büchern. Natürlich war das immer wieder schmerzhaft für Autoren, ihre Werke so vehement kritisiert zu sehen, ihre Werke, an denen sie ja manchmal jahrelang gesessen hatten. Und dann kommt dieser Mann und zerreißt das Buch womöglich auf dem Titelbild des »Spiegels« oder in einer kleinen Notiz. Er kannte keine Kompromisse, keine Schmeicheleien.

Marcel Reich-Ranicki mit Sigrid Löffler, Hellmuth Karasek und dem Gast Ulrich Greiner im Literarischen Quartett.
Marcel Reich-Ranicki mit Sigrid Löffler, Hellmuth Karasek und dem Gast Ulrich Greiner im Literarischen Quartett.

© picture alliance / dpa

Ich fand immer die Szene am beeindruckendsten, die er selbst in »Mein Leben« beschreibt, er war noch nicht lange in Deutschland, Heinrich Böll hatte ihm in seiner ersten Zeit viel und lebenspraktisch geholfen, und eines seiner nächsten Bücher verriss Reich-Ranicki in gebotener Deutlichkeit. Keine Reaktion von Böll. Bis sie sich wenig später auf einem Empfang wiedersahen. Sie sehen sich schon von Weitem. Reich-Ranicki befürchtet einen Skandal. Böll kommt auf ihn zu, scheint ihn zu umarmen, flüstert aber nur in Reich-Ranickis Ohr: »Arschloch!«

Klar. Heinrich Böll hat aus seiner Perspektive recht. Was soll das? Wenn es ihm nicht gefällt, kann er nicht wenigstens schweigen? Wenn ich doch so freundlich zu ihm war? Konnte er nicht. Wollte er nicht. Dafür war ihm Böll zu wichtig. Dafür war ihm die Literatur zu wichtig. Und es ist völlig klar, dass die gesamte deutsche Literatur der Epoche, die er begleitet hat, niemals die Bedeutung erlangt hätte ohne ihn. Die Werke der stets so lautstark Leidenden Martin Walser und Günter Grass wären ohne diesen oft lästigen kritischen Begleiter und Verreißer und Lobredner in der öffentlichen Wahrnehmung und damit auch in der Wirklichkeit viel unbedeutendere gewesen. Er gab ihnen oft erst die herausragende Bedeutung, die sie dann meinten, laut und weinerlich gegen ihn verteidigen zu müssen. Womit hier, nur weil dies ein Nachruf ist, natürlich keinen Moment behauptet werden soll, dass er sich nicht oft, sicher sogar sehr oft, irrte, lautstark irrte und nicht wenigen Büchern und Autoren unrecht getan hat. Lächerlich wäre es, das zu leugnen. Lächerlich, nicht zu erkennen, dass solche lautstarken Irrtümer unbedingt dazugehören.

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Wenn es beim Lesen um alles geht: Es gibt diesen Film über eine Zugfahrt mit ihm durch Deutschland. Am Fenster rauscht die Loreley vorbei. Reich-Ranicki schaut und lacht: »Was wäre die Loreley ohne den Dichter Heinrich Heine? Nur irgend so ein Felsen in der Landschaft. Völlig belanglos und unbedeutend.« So hat Marcel Reich-Ranicki die Welt gesehen. Manchmal dabei ironisch lachend, meistens bitterernst. Und über diesen Heinrich Heine, der also die Loreley erfunden hat und dessen Verse er so liebte wie sonst nur noch die von Brecht, schrieb er einmal dies: Er dichte über »die Leiden eines Menschen, der, hineingeboren in die deutsche Welt, integriert werden möchte. Der Schmerz dessen, den man nicht zulässt, der allein und einsam bleibt – das ist Heines Leitmotiv: Die aussichtslose Liebe, die er in seinen Liedern und Gedichten besingt, symbolisiert die Situation des Verstoßenen und Ausgeschlossenen«. Ein Fremdling des Lebens, früher Bruder Tonio Krögers. Einer, der sehnsüchtig zuschaut und gern ganz dazugehören würde.

Volker Weidermann leitet als Nachfolger von Marcel Reich-Ranicki das neue Literarische Quartett, hier im Bild mit Maxim Biller und Christine Westermann.
Volker Weidermann leitet als Nachfolger von Marcel Reich-Ranicki das neue Literarische Quartett, hier im Bild mit Maxim Biller und Christine Westermann.

© picture alliance / dpa

»Na irgendwo muss man doch dazugehören«, hatte Marcel Reich-Ranicki einmal gesagt, als ich ihn gefragt hatte, warum er unbedingt zu dieser Gruppe 47 gehören wollte. Und auf die Frage, ob es nicht merkwürdig gewesen sei, in so einer Männergruppe, die zum großen Teil aus ehemaligen Wehrmachtssoldaten bestand, über neue Bücher zu diskutieren, statt einmal über die persönlichen Erlebnisse aus der Vergangenheit, meinte er nur, nein, man sei eben zusammengekommen, um über Literatur zu reden. Da habe er nicht noch Zeit gehabt, über die Vergangenheiten der anwesenden Männer nachzudenken.

Er wollte es auch nicht. Weil er eben einmal dazugehören wollte. Es war schon schwer genug. Trotzdem wurde der einzige echte Freund jener Mann, der aufgrund seiner asthmatischen Erkrankung kein Soldat gewesen war. Walter Jens, der Schriftsteller und Kritiker und Rhetor. Er wurde Marcel Reich-Ranickis Lebensfreund. Lange vor der Erfindung des Telefonsex hätten sie beide die Telefonfreundschaft erfunden, hat er geschrieben. Sie telefonierten jahrelang beinahe jeden Tag miteinander. Irgendwann ging auch diese Freundschaft auseinander.

Als ich Marcel Reich-Ranicki zum letzten Mal in seiner Wohnung in Frankfurt besuchte, war auch sein Sohn Andrew bei ihm. Reich-Ranicki erholte sich gerade mühsam von den Folgen einer Lungenentzündung. Er war etwas schwach, etwas blass, aber heiter. Wissbegierig wie immer. Andrew zeigte mir an einer Wand im Arbeitszimmer ein Bild von Jens und seinem Vater. Eine Lithografie. Sie tanzen, sie reden, vielleicht streiten sie auch. Alles zugleich. Wenige Tage vorher war Walter Jens gestorben. Marcel Reich-Ranicki wollte unbedingt zu der Beerdigung fahren. Hatte das Jackett schon an, bereit zur Abfahrt. Aber er war schon zu schwach.

Das ging nicht mehr. Jetzt sitzt er in seinem großen schwarzen Sessel, blaues Hemd und Hosenträger, wartet auf Neuigkeiten, auf eine gute Geschichte. Ich bemühe mich sehr, manchmal lacht er, tonlos aus dem tiefen Inneren scheint das Lachen zu kommen, er klopft auf die Lehne. »Das ist gut.« Wir verabreden, mit neuen Antworten noch etwas zu warten. Wir wissen wohl beide, dass er keine mehr schreiben wird. Aber als ich ihm sage, dass sehr viele Fragen gekommen seien, scheint er sehr froh.

Dann sagt Andrew, es sei Zeit zu gehen. Sein Vater winkt und lacht ein wenig. Dann ist der Vorhang zu. Und es bleibt, neben der großen Traurigkeit, ein Staunen über diesen Mann, über sein Leben und eine große, tiefe Dankbarkeit.

Diese Leseprobe ist dem neuen, bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Buch von Volker Weidermann, "Dichter treffen. Begegnungen mit Autoren", entnommen. Wir veröffentlichen den Text hier mit freundlicher Genehmigung des Verlags und des Autors.

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