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Breitscheidplatz, 19. Dezember 2016.

© Markus Hesselmann

Friedrichstraße, Breitscheidplatz, Bayerisches Viertel: Ein Abend, der einem Historiker Angst machen kann

Dmitrij Belkin über den Anschlag vom Breitscheidplatz, die Schüsse von Ankara im Video und den sowjetischen Spielfilm "Roter Holunder".

Der Film heißt „Kalina krassnaja“ („Roter Holunder“) und läuft im Berliner „Russischen Haus“ in der Friedrichstraße auf Deutsch. Viele prominente Ex-DDR Filmschaffende sind an diesem Abend da. Der Film aus dem Jahr 1974 wurde erstklassig vom Defa-Studio synchronisiert. Am Ende des Filmes töten die widerlichen Kriminellen den guten und einsamen Lebensphilosophen Jegor, gespielt vom Star der sowjetischen Literatur und des sowjetischen Films, Wassili Schukschin. Der Bruder seiner Freundin spürt das Auto der Banditen auf und rast mit seinem massiven Lkw in den Wagen der Mörder. Man weiß nicht, ob sie überleben. Dann endet der große Film. Die Witwe Schukschins ist da, sie spricht lange und einen Tick zu pathetisch.

Meine Frau und ich verlassen das Kino und gehen anschließend essen. Es ist Maredo in der Friedrichstraße. Das Lokal ist voll an diesem vorweihnachtlichen Abend. Zwei, drei Gruppen waren da, auch eine muslimische – junge Frauen mit Kopftüchern, die wie wir mit unserer Koscher-Style-Einstellung sich auf ein Nichtschweinefleisch in diesem überwiegend Rind- und Hähnchenfleisch-Restaurant freuten. Mitten im Abendessen bekamen wir eine SMS-Nachricht von einem Freund aus Hessen, der wissen wollte, ob wir in Ordnung seien. Wir checkten die Nachrichten. Lkw rast in den Weihnachtsmarkt „bei uns“ in der Nähe, am Ku'damm. Es gebe Tote und Verletzte. Nichts sei bekannt. Es ist kurz nach 21 Uhr.

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Die Gruppen haben inzwischen gegessen und sind fast alle gegangen. Auch wir zahlen, die Bedienung weiß nicht mehr als wir - das heißt, sie weiß nichts. Wir rufen unseren Sohn zu Hause in Berlin und meine Eltern bei Stuttgart an. Die Eltern hörten bereits russische und ukrainische Nachrichten und sind aufgeregt.

„Dritter Weltkrieg?“ – rast durch meinen aufgebrachten Historiker-Kopf

Ich blättere Facebook- und Twitter-Nachrichten und sehe in meinem Handy die ersten theatralischen Bilder eines gut aussehenden Mannes mit einer Pistole. Welcher Film wird jetzt schon gepostet, welche Kunstinstallation, frage ich mich - was für Idioten, an einem solchen Abend mit dieser Ästhetik der Bond-Filme 1970er Jahre! Doch das ist kein Film. Der russische Botschafter in der Türkei wurde am selben frühen Abend von einem muslimischen Terroristen getötet, der zugleich ein Polizist war. „Für Syrien! Allahu akbar!“ schreit der Mann, der später von der „echten“ Polizei erschossen wurde.

Wirkt wie ein unpassender Film, ist aber Realität: Die Schüsse von Ankara.
Wirkt wie ein unpassender Film, ist aber Realität: Die Schüsse von Ankara.

© Reuters

Der Botschafter Andrej Karlov, ein sympathischer korpulenter Mann über 50, eröffnete in Ankara eine Fotoausstellung über Rußland – seine letzte dienstliche Aktion. „Dritter Weltkrieg?“ – rast durch meinen aufgebrachten Historiker-Kopf. Auch mir sind die Nachrichten zu viel.

Bayerisches Viertel? „Dort in der Nähe ist es passiert“

Wir verlassen das Lokal und suchen uns ein Taxi. Mit der S-Bahn wollen wir nicht fahren. Doch ein Taxi ist nicht zu finden. Alle rasen vorbei, alle sind voll. Der Taxistand in der Friedrichstraße ist gähnend leer. Ein Auskunft freudiger Obdachloser zeigt uns einen weiteren: „Da, wo der Mülleimer ist, müsst ihr links abbiegen. Das tun wir. Dort stehen in der Tat zwei leere Autos – ohne Taxifahrer. Wir gehen zur Spree. Ein Auto hält. Wir sagen unsere Adresse im Bayerischen Viertel. „Dort in der Nähe ist es passiert“, sagt der Mann. Wir reden zu dritt. Er klingt fatalistisch. Berlin sei seit drei Jahren unsicher. Er gehe nie mehr zu den öffentlichen Plätzen. „Und wohin gehen Sie?“ - frage ich. „Zu meiner Familie“ sagt der wohl dreißigjährige Mann. „Zu einigen Freunden. Auch außerhalb Berlins.“ Denn diese Stadt sei gefährlich. Die Vergewaltiger und Mörder bekommen hier drei bis vier Jahre Gefängnis. Man müsse strenger sein und immer wieder kontrollieren.

Der Mann stammt aus einem arabischen Land, spricht dieses unverwechselbare arabo-berlinerisch, welches wir inzwischen zu Genüge kennen. Er hält am Tragödien-Ort neben der Gedächtniskirche kurz an. Wir sollen nach rechts gucken und uns das gut merken, hier nie wieder auftauchen. „Denn die Terroristen denken, die Menschen sagen, ich wäre frei und kommen wieder – dann schlagen sie hier erneut zu. So einfach ist das“ - erklärt uns der Taxifahrer. Er klingt überzeugt.

„So lange in Israel und Syrien Krieg herrscht, gibt es auch hier keinen Frieden“, schließt der Mann. Dieses Thema wollen wir nicht vertiefen und schweigen die letzten Minuten der Fahrt. Wünschen ihm zum Abschied alles Gute, der Mann fährt noch bis fünf Uhr morgens. Er sagt, wir sollen vorsichtig bleiben.

Der Sohn ist cool - wir sind besorgt

Zu Hause reden wir auf unseren Sohn ein. Vorsicht, Weihnachtsmärkte, diese riesigen Plätze, wo er mit seinen Freundinnen und Freunden immer rum hängt. Unser Sohn beruhigt uns. Er ist cool – wir sind besorgt.

Ich sehe mir das Video der Erschießung der russischen Botschafters an und höre parallel die Rhetorik unserer öffentlich-rechtlichen Berichterstattung: „mutmaßlich“, „Vorfall in Berlin“, „der zweite Mann ist im Auto gestorben“ (wurde ihm denn plötzlich nicht gut? bekam er auf der lockeren Fahrt einen Herzinfarkt?), „polnischer Staatsbürger“, „polnisches Auto“ (bloß gefährliche Wörter wie „Flüchtlinge“ „Pakistan“, „Syrien“ vermeiden), „Unfall oder Terror - alle rätseln darüber“, „beruhigende Wirkung der Polizei“. Ich wechsle zum CNN. Wir rätseln nicht mehr – wir sind ratlos. Und müde. Es war ein langer Tag. Mit einem furchtbaren Ende: Die Unschuldigen starben. Die Nacht wird sehr kurz, der Morgen kalt und neblig. Am Zoo stehen Polizisten mit Maschinengewehr.

Dmitrij Belkin hat unlängst das Buch "Germanija. Wie ich in Deutschland jüdisch und erwachsen wurde" veröffentlicht, eine Leseprobe finden Sie hier. Für den Tagesspiegel hat Belkin kürzlich den Beitrag "Auch 'Russen' sind Juden" geschrieben, den Sie hier lesen können.

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Dmitrij Belkin

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