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Sonnenuntergang an der Admiralbrücke in Kreuzberg

© Kai-Uwe Heinrich

Bleiben oder gehen?: Nur weg aus Kreuzberg

Rudel bilden. Fakten schaffen. Freiheit genießen. Das ist seit Jahrzehnten Kreuzberger Lebensart. Kein Kiez ist so sehr damit verbunden, wer man ist und wer man sein möchte. Für viele ist das auch eine Zumutung. Und Umzug manchmal die einzige Lösung.

Sie haben es getan. Familie K. hat mit ihren drei Kindern gewagt, wovon viele immer nur reden: Sie ist weggezogen. Aus Kreuzberg! Diesem Stadtteil, in dem die Losung heißt: „Wir bleiben!“  In den 80ern wollten die Hausbesetzer bleiben, das lautstark-legendäre SO36 will in der Oranienstraße bleiben, Familien in ihren alten Mietverträgen, Flüchtlinge am Oranienplatz und die Feiernden an der Admiralbrücke. Alle wollen immer bleiben. Und dafür kämpfen sie.

Hier, wo andere Regeln gelten als im Rest der Stadt: Ein CDU-Mann muss seinen Parteistand von der Polizei schützen lassen. Die Polizei rät Anwohnern, die unter Ruhestörern leiden, doch selber auszuziehen, und der Bezirk soll Absprachen mit Dealern getroffen haben, Kinderspielplätze weiträumig zu meiden. Sitzen bald die Flüchtlinge von Kreuzberg nicht am Oranienplatz, sondern im Umland? Ist Wegziehen eine Lösung?

„Kein Bedarfshalt“, hatte Wenke K. am Telefon gesagt. Immerhin. Man muss noch nicht extra einen Knopf drücken, damit sich nun bei ihnen auf dem Land in Caputh die Bustüren öffnen. Bedarfshalt bedeutet ja, dass es in der Regel keinen Bedarf gibt. Und schon während man herausfährt aus Kreuzberg, sieht es schon nicht mehr wie ein „Anschlag“ aus, wenn einem Kreuzberger CDU-Politiker das Metallschild vor seinem Büro abgeschraubt wird. Man kann in ländlicher Stille mit kühlem Kopf über die heißen Themen reden, wo Wenke K., 35 Jahre alt, als einzige Person an der Bushaltestelle das Straßenbild Capuths belebt.

Wilmersdorf kann man ohne Angabe von Gründen den Rücken kehren. Es ist ganz einfach, sich in Schönberg ab- und in Charlottenburg anzumelden. Aber wer Kreuzberg verlässt, muss sich intime Fragen gefallen lassen. Ist es ein Kampf, der verloren wurde? Ein Eingeständnis? Eine Flucht? Eine Erleichterung? Ein Zeichen von Schwäche? Kapitulation? Can’t stand the heat?

Nein. Im Gegenteil, sagen sie. Sie ernteten Bewunderung von ihren Freunden. Dass sie tun, womit andere immer kokettieren, „alle reden ja davon“.

Während sich der Sohn mit den Gesetzmäßigkeiten einer Ameisenstraße beschäftigt, steht das geliebte Lastenfahrrad, mit dem sie in Kreuzberg herumgefahren sind, dieses Symbol nachhaltiger, städtischer Mobilität, unbewegt auf der Terrasse wie eine Skulptur.

Sie gingen nicht im Zorn, ihre Entscheidung hat lange gebraucht. Sie haben etwas gewonnen, aber auch etwas verloren. Es begann damit, dass sie nach einigen Jahren in Nord-Neukölln 2007 begeistert in den Graefekiez gezogen sind. Das Motto hier „Gerne lebenslänglich“ kam ihnen überhaupt nicht abwegig vor.

Ihr Haus, sagen sie, war ganz ohne Programm ein Mehrgenerationenhaus. Ein korrekter, privater Vermieter. Der Verwalter wohnte seit 30 Jahren dort. Acht Kinder unter zehn Jahren. Und dann die Kreuzberger, „total offen, da ist alles möglich, alle sind Kommunizieren gewöhnt“. Sie liebten es. In Caputh zucken die Nachbarn zusammen, wenn man sie anspricht.

Nur dass dann zwei Kreuzberger Gespenster in ihrem Leben auftauchten. Als hätte es jemand erfunden, manifestierten sich auf exakt dem gleichen Wohnungsgrundriss wie dem ihren, in den Stockwerken über und unter ihnen, zwei Kreuzberger Mythen.

Der pensionierte Bauarbeiter, der schon mehr als 30 Jahre in seiner Wohnung über ihnen lebte, „der hatte so seine Phasen“. Wenn der Alkohol ihn im Griff hatte, brüllte er durch die Dielen zu ihnen herunter oder er ließ schwere Gegenstände auf den Boden donnern. Irgendwann überwanden sie sich und riefen doch einmal bei der Polizei an. „Als Erstes müssen Sie ein Lärmprotokoll schreiben“, sagte die. Es könne drei bis vier Jahre dauern, bis diese Maßnahme einen Effekt hätte. Am einfachsten sei es, so riet die Polizei, wenn sie selber auszögen.

Der erste Riss in der Beziehung zu Kreuzberg.

In Kreuzberg hat sich so etwas entwickelt. Kaum jemand will hier weg. Auch Familie K. (unten) zögerte lange – und zog dann aufs Land.
In Kreuzberg hat sich so etwas entwickelt. Kaum jemand will hier weg. Auch Familie K. (unten) zögerte lange – und zog dann aufs Land.

© Mike Wolff, TSP

Kann sich irgendjemand vorstellen, in Wilmersdorf diesen Rat zu bekommen? In dem Lärmprotokoll, das die beiden ein paar Monate lang führten und das K. jetzt aus seinem Aktenordner holt, wird es naturgemäß sehr kleinteilig. Es ist der schriftliche Beweis, dass es auch bei ihnen einmal wütende Momente gegeben hat. „Rummsen!!!“ steht da, mit drei Ausrufezeichen. „Schränke sägen!“ Zwischendurch verloren sie immer wieder die Lust, das Protokoll weiterzuführen. Später stellten sie zwei Dinge fest: Der Nachbar hatte seine Krisen besonders häufig an Feiertagen. Und: Besonders viele Einträge gab es, wenn es ihnen selbst nicht so gut ging. Waren sie also selber schuld, wenn sie derselbe Lärm plötzlich störte? Welchen Anteil hatte der eigene Zustand an einer „Belästigung“?

Unter ihnen zog dann ein junger Werbefilmproduzent ein, den sie nur „den Hipster“ nannten. Der war schwieriger als der Alki von oben. Denn er erinnerte sie an sich selbst. Kam er gegen elf am Abend aus seiner Agentur nach Hause, drehte er die Musik auf. „Wir haben früher auch keine Rücksicht genommen“, sagt Mirko K.. Er erinnert sich gut an seine Studentenzeit. Keine Menschenseele stört ja zu nachtschlafender Zeit den Eindruck, man wohne vollkommen alleine in seinem Haus. „Man sieht ja nie jemanden.“

In Kreuzberg führt jedes Unwohlsein direkt zur Identitätsfrage

Weil der Hipster Single war, hängte er alle Türen aus. Die ganze Wohnung war so ein Raum. Zimmerlautstärke hieß, dass er überall in diesem einen „Zimmer“ die Musik hören können musste. Ansonsten war er sehr nett, er verstand sich mit ihren Kindern. Er war eine Art Bote aus ihrem früheren Leben, der sie daran erinnerte, wie ungebundene Leute sind.

Aus der Übereinkunft, dass es in Kreuzberg um Freiheiten geht, und dem Wissen, dass natürlich des einen Freiheit des anderen Zumutung ist, entsteht der erste Riss in der Beziehung zu Kreuzberg mit einem Zweifel, der zunächst ein Selbstzweifel ist. Werde ich jetzt spießig? Werde ich jetzt so, wie ich nie sein wollte?

Nur aus diesem Freiheitsbegriff heraus ist zu erklären, dass heute jede Beschwerde auf einen selbst zurückfällt. Kreuzberg ist so sehr damit verbunden, wer man ist und wer man sein möchte. Deshalb führt hier jedes Unwohlsein direkt zur Identitätsfrage: Wie will ich leben? Kann ich meinem eigenen Freiheitsbegriff genügen?

Das geht vielen so. Der Kollegin, die zunächst mit einigem Selbstzweifel, bald aber schon mit einem Anflug von Trotz, nachts um drei hinunterstapft zum Engelbecken, um dort Leuten, die feiern, die bekannte Tatsache zu erklären, dass andere Leute arbeiten müssen.

Bemerkenswerte Duldsamkeit in Kreuzberg

Mit diesem Freiheitsbegriff lässt sich auch erklären, dass zum Beispiel der Anwohner, der sich über die Lautstärke des Clubs SO36 beschwerte, ja insoweit nach landläufigen Maßstäben im Recht gewesen sein muss, als er eine 100 000 Euro teure Lärmschutzwand durchsetzen konnte. Nach Kreuzberger Maßstäben war er aber dermaßen im Unrecht, dass er sich öffentlich nie zu erkennen gab. So etwas tut man einfach nicht in Kreuzberg. Man mag recht haben, aber man fordert es nicht ein. Es gehört zu den Regeln, die Freiheiten der anderen zu ertragen.

Vielleicht erklärt dies auch die für andere erstaunlich gelassenen Reaktionen der Anwohner auf die Dealer im Görlitzer Park. Der fehlende Aufschrei der Anwohner über das Flüchtlingscamp am Oranienplatz, die bemerkenswerte Duldsamkeit, die es in keinem anderen Bezirk gäbe. Dass die Kreuzberger selbst sich so gar nicht richtig empören wollen, empört wiederum die Presse: Geht es nicht um Freiheiten, die von den falschen Leuten ausgenutzt werden? Um einen völlig verhunzten Freiheitsbegriff?

Aber der hohe Erregungston der Kreuzberg-Debatten hat noch nie übereingestimmt mit ihrer Lebenswirklichkeit. Wenke K. sagt: „Ich habe auf die Lautstärke schon empfindlich reagiert.“ Schließlich saß sie an ihrer Promotion zu Filmen der „Berliner Schule“, sie musste sich konzentrieren. Herr K., freier Journalist, sagt: „Na ja.“

Frau K. sagt: „Amerikaner sind mit der Akustik Berliner Hinterhöfe nicht so vertraut.“ Das ist ihr Euphemismus dafür, dass die Ferienwohnungen über den Hof nachts das ganze Haus beschallten. Im Sommer schliefen sie immer zu Partygeräuschen ein. Und dann die Spontandemos: „Gegen Gentrifizierung. Gegen die da oben. Gegen alles.“

„Warum soll ich wegziehen müssen, wenn ich nicht mehr in der Feierphase bin?“, fragte sich Herr K. in einem klaren Moment. Warum, wenn es hier in Kreuzberg noch immer um die Freiheit geht, warum war damit immer nur die Freiheit der anderen gemeint?

Es gab einen einzigen Begriff, sagt der Soziologe Sigmar Gude, der in Kreuzberg die Selbstverständlichkeiten verkehrte: „Die ersten Hausbesetzer haben sich eben nicht Hausbesetzer, sondern Instandbesetzer genannt.“ Und: „Dieser Begriff fiel auf fruchtbaren Boden.“ Selbst Bürgerliche verstanden das Anliegen. Zeitungen beschrieben plötzlich neue Helden, die Retter der Altbauten. Es war gar nicht mehr so klar, dass auf der richtigen Seite der Senat, auf der anderen Seite aber die „Chaoten“ saßen.

Mehr als ein Drittel der Kreuzberger leben länger als zehn Jahre im Kiez.

Eine junge Frau sitzt mit einem Buch am Fenster.
Fensterbrettmoment. Mit der Sonne kommen auch die Kreuzberger wieder vermehrt ans Fenster, wie diese junge Frau, die gerade beim Lesen ist. Haben auch Sie schöne Kreuzberg-Momente aufgenommen?

© dpa

Aus dieser Entwicklung rühre das ungeheure Selbstbewusstsein, möglicherweise nicht im Einklang mit dem Gesetz, aber trotzdem auf der richtigen Seite zu sein. Kreuzberg war die Alternative, nicht nur zu den anderen Bezirken Berlins, sondern zum Staat. Mit den anbrandenden Wellen der Wehrdienstverweigerer auch zu ganz Deutschland. „Man kann die Besonderheit Kreuzbergs nur aus der Geschichte verstehen“, sagt Gude. Da habe sich ein alternatives Wir entwickelt.

Dieses Wir funktioniert nach einer eigenen Methode, die nach folgendem Muster abläuft: Rudel bilden. Fakten schaffen. Freiheiten genießen. Diese Technik funktioniert in Kreuzberg für fast alle. In den Altbauten für die Hausbesetzer, am Oranienplatz für die Flüchtlinge, für bürgerliche Eltern, die ihre Kinder als möglichst geschlossene Klassenverbände an verrufene Schulen schicken, und auch für die Bauherren, die als große Gruppe eine Insel des Eigentums am Urban-Krankenhaus geschaffen haben. Unerwünschte Rudel generieren größere Rudel. Erst durch das personenstarke und naturgemäß ebenfalls sehr laute „Myfest“ werden die 1.-Mai-Randalierer in Schach gehalten.

Kein Wunder, dass es immer lauter wird in Kreuzberg. Es sind Kampfgeräusche von der Front des gesellschaftlichen Diskurses. Da werden, stellvertretend für den Rest der Gesellschaft, Stellungskriege geführt. Positionen verteidigt. Gräben aufgemacht. Grenzlinien verhandelt: Konflikte mit Gastronomen um Lautstärke, mit Mietern um Preise, mit Anwohnern um Bebauung, Ferienwohnungen, die Belegung von Bürgersteigen.

Am Infobrett der Kiezinitiative, Dieffenbach- Ecke Graefestraße, hing eines Tages ein Zettel: „Hallo, wer möchte noch nicht wegziehen – nur wegen der Schule?“ Mirko K. sagte: „Wir sind für Durchmischung!“ Dann schrieben auch sie ihren Sohn in der örtlichen Schule ein.

Das Rudel heißt bei Gude „die kritische Masse“, die es für jede Art politischer Aktionen braucht. Die ist in Kreuzberg schnell mobilisierbar, was auch daran liegen könnte, dass vieles, was anderswo nur ein ästhetisches Statement ist, hier politisch aufgefasst wird. Das gleiche Che-Guevara-T-Shirt ist in Mitte und Prenzlauer Berg nur noch ein Zitat, in Kreuzberg aber im Zweifel ernst gemeint. Warum ist das hier so?

Mehr als ein Drittel der Kreuzberger leben länger als zehn Jahre im Kiez

Sigmar Gude erforscht seit bald 30 Jahren Kreuzberg: Mit seinem Institut „Topos“ nimmt er regelmäßig im Auftrag des Senats die unterschiedlichen Kieze unter die Lupe. Ergebnis: In keinem anderen von Gude untersuchten Bezirk gibt es so wenige Leute mit Umzugsabsichten. Mehr als ein Drittel der Leute leben länger als zehn Jahre im Kiez.

Zwar steigen auch hier die Preise, und wo ein Armer auszieht, zieht kein Armer wieder ein. Aber anders als in Mitte oder Prenzlauer Berg habe es keinen fast vollständigen Bevölkerungsaustausch gegeben. Wenn man die Bewohner fragt, was ihnen gefällt, sagen sie am häufigsten: das soziale Umfeld, die Bewohner. „Allgemeine Atmosphäre“ wird etwa von einem Drittel genannt. Die Bewohner akzeptieren oder lieben ihren Stadtteil sogar, und das ist ja ein städtebaulicher Glücksfall.

Wenke und Mirko K. wollten auch lange nicht weg. Aber es spitzte sich zu: die allgemeine Lautstärke. Viermal am Tag mit zwei Kleinkindern den Kottbusser Damm zu überqueren, erschien plötzlich quälend. Sie: aus Oldenburg. Er: aus Potsdam. Beide zusammen sehnten sich nach Natur. Mit dem dritten Kind wurde auch die Wohnung eng.

So gründeten sie eine Genossenschaft, die gerade in Werder ein riesiges Fabrikgelände umbaut. Er kümmert sich um die Interessenten, sie ist im Vorstand. „Alleine aufs Land ist blöd“, sagt Mirko K.. Die Genossenschaft soll ein Mehrgenerationenprojekt sein. „Kiezig“ soll es werden, der Gedanke lockte, „dass man Kreuzberg mitnimmt“. Sozusagen ein Kreuzberg in Grün.

Bis das fertig ist, sitzen sie übergangsweise in der Caputher Wochentagsstille, die ihnen ein bisschen unheimlich ist. Und dann erzählen sie von einer Bekannten, die rausgezogen ist und wieder zurückgekehrt. Das ist Kathrin Sonderegger, 42, Homöopathin, die man jetzt in ihrer frisch eröffneten Praxis in der Lenaustraße antreffen kann.

Fluchtgedanken, sagt sie, kämen einem immer dann, wenn gerade mit einem selbst etwas nicht im Lot sei. Kurz bevor sie selbst nach Werder rausgezogen sei, habe auch sie sich in eine Abneigung gegen Kreuzberg hineingesteigert, alles kam ihr laut und dreckig vor. Aber die Homogenität der deutschen Akademikerkleinfamilien hat sie da draußen aggressiv gemacht. Die Beklemmung löste sich erst, sobald sie wieder den Stadtring erreichte. „Ich habe gemerkt, dass mir die Menschen wichtiger sind als die Natur.“ Nach drei Jahren war sie wieder in Kreuzberg.

Für den Fall, dass es im Sommer wieder laut wird unter ihrer Wohnung in der Graefestraße, wird sie sich einen Eimer Wasser auf den Balkon stellen.

Dieser Artikel erscheint im Kreuzberg Blog, dem hyperlokalen Online-Magazin des Tagesspiegels.

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