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Ausman ist vor zwei Wochen zur Humboldt-Universität nach Mitte gefahren und hat sich dort im Hörsaal 2002 des Hauptgebäudes an ein Mikrofon gestellt. Er will auf die Probleme der Flüchtlinge aufmerksam machen.

© Veronica Frenzel

Ein Flüchtling in Kreuzberg: Das Leben hat ihn an den Oranienplatz geführt

Als Ausman von Mali nach Libyen ging, suchte er nur ein besseres Leben. Nach Gaddafis Sturz zog er weiter, nach Europa, Berlin, Oranienplatz – in Kreuzberg lernte er, dass man ein besseres Leben nicht einfach suchen kann.

Als er am Berliner Hauptbahnhof ankommt, ist es kalt, der Himmel ist grau, und Ausman* aus Mali fragt sich, was er hier überhaupt soll. Er spricht kein Deutsch, er kennt niemanden, er weiß nicht viel über die Stadt, doch das, was er weiß, wird er später auf besondere Weise mit Leben füllen. Aber jetzt geht er, nur mit einem dünnen Anorak bekleidet, ziellos und frierend in der Halle herum, bis er einen anderen Schwarzafrikaner entdeckt. Er läuft zu ihm, erklärt auf Englisch, er sei gerade angekommen, wisse nicht wohin, und fragt nach einer Schlafmöglichkeit, einem Obdachlosenheim. Der Mann antwortet, er kenne da einen Platz.

Wenig später steht Ausman am Oranienplatz in Kreuzberg. Und sofort will er umkehren, als er den Dreck sieht. Er denkt, wenn es in Berlin keinen anderen Platz für Flüchtlinge gibt als diesen, dann wird er zurückfahren nach Italien, wo er gerade herkam, weil man ihn da nicht wollte. Er geht zu einem großen offenen Zelt, in dem ein paar Deutsche und mehrere Afrikaner sitzen. „Wieso bloß lebst du auf diesem furchtbaren Platz?“, fragt er einen von denen. Und hört eine Antwort, die sein Leben verändert.

Ausman hat nie daran gedacht, sich politisch zu engagieren. Als er seine Heimat verließ, tat er das auf der Suche nach einem besseren Leben. Damals war er 19 und lebte in Timbuktu bei seinem Onkel. Er lernte dort, wie man Schmuck herstellt, seine Ketten, Armbänder und Ohrringe verkaufte er auf dem Markt. Doch was er verdiente, gab er meist noch am selben Tag aus, für seine Familie blieb kaum etwas. Wie viele seiner Landsleute suchte er sich Libyen als neue Heimat aus. Dort gab es Jobs, gute Gehälter, generellen Wohlstand und 2006 noch stabile Verhältnisse. Außerdem sprach man Arabisch, die Sprache hatte Ausman in der Koranschule gelernt. Voller Hoffnung machte er sich auf den Weg.

Seit zehn Monaten wohnt Ausman in einem Zelt am Oranienplatz

Acht Jahre später ist nichts besser in seinem Leben, aber vieles schlechter in Mali und Libyen. Der Weg zurück, so scheint es zu sein, ist ihm versperrt. Und nun steht er also auf dem dreckigen, kalten Oranienplatz und hört einen der dort hausenden Afrikaner sagen, dass dieses Lager ein politischer Protest sei, und sie, die Flüchtlinge, kämpfen würden für ein besseres Leben. Das sind neue Töne im Leben von Ausman. Kämpfen also, statt nur zu suchen. Aktiv werden, statt passiv zu bleiben, und Umstände gestalten, statt von ihnen herumgetrieben zu werden. Es klingt gut in seinen Ohren.

Das war vor zehn Monaten. Seitdem lebt Ausman in einem kleinen Zelt, an dessen Wänden schwarz der Schimmel emporklettert, schläft auf zwei übereinandergestapelten Matratzen, die auf Europaletten liegen, gewärmt von einem kleinen Heizstrahler. Den muffigen Geruch, der von den feuchten Matratzen aufsteigt, versucht er mit Räucherstäbchen zu übertünchen. Nur manchmal, wenn er die Kälte gar nicht mehr aus den Knochen bekommt, übernachtet er bei einem der Berliner Unterstützer, die Flüchtlinge in ihren Wohnungen aufnehmen. Er sagt: „Ich werde nicht gehen, denn wenn wir nicht mehr auf dem Platz leben, dann haben wir auch keine Stimme mehr. Dann bleibe ich rechtlos und getrieben.“

„Europa ist schuld daran, dass unsere Länder kaputt sind!“

Das will er nie wieder sein, jetzt, wo er es in großer Klarheit erkannt hat und benennen kann. Deshalb ist Ausman am vorvergangenen Donnerstag zur Humboldt-Universität nach Mitte gefahren und hat sich dort im Hörsaal 2002 des Hauptgebäudes an ein Mikrofon gestellt. „Wir sind hier“, hat er auf Französisch gerufen, „weil unsere Länder kaputt sind!“ Er hat sich schick gemacht für seinen Auftritt, trägt zur roten Hose ein graues Jackett und einen weißen Anorak. Während er spricht, stemmt er beide Arme gegen das Pult. Fast wirkt er wie ein erfahrener Redner, aber dann spricht er doch viel zu schnell und zu leise.

Vor ihm saßen etwa 70 Menschen, Durchschnittsalter 25, viele Studenten, viele Kapuzenpullis, bunte Schals und Piercings. Ausman rief: „Europa ist schuld daran, dass unsere Länder kaputt sind!“

Europa. Genauer: die Berliner Afrikakonferenz. Ausmans Suche nach dem besseren Leben führte ihn genau in jene Stadt, in der 1884/1885 auf Einladung des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck die vier Monate andauernde Konferenz stattfand, an deren Ende der schwarze Kontinent unter den Europäern und den USA aufgeteilt wurde. In Afrika ist die Konferenz bekannt wie in Europa der Zweite Weltkrieg. Die Konferenz, so denken die meisten Afrikaner, habe ihren Kontinent zerstört und der habe sich bis heute nicht davon erholt.

Die Franzosen, sagt Ausman im Hörsaal, hätten den Rassismus nach Mali gebracht. Dass die weniger Schwarzen sich seit der Kolonialisierung für etwas Besseres hielten als die ganz Schwarzen, dass es deshalb immer wieder zu Konflikten komme. „Der Kolonialismus hat die Solidarität der Afrikaner zerstört“, sagt er.

Im Saal ist es ganz still, die Blicke der Anwesenden sind auf Ausman geheftet. Es ist die Gründungsveranstaltung der „African Refugees Union“, kurz: ARU, auf der Ausman da spricht. Es wird viel geklatscht und aufmerksam zugehört. Ausman ist einer von fünf Rednern an diesem Abend, den fünf ARU-Gründungsmitgliedern. Alle fünf sind Flüchtlinge vom Oranienplatz. Alle fünf erzählen ähnliche Geschichten von den Folgen des Kolonialismus in Afrika, von den Konflikten in ihren Ländern, die alle irgendwie auf die Zeit der Kolonien zurückzuführen sind. Und alle fünf geben gerade Deutschland eine Mitschuld an der afrikanischen Misere. Wegen jener Konferenz, die in Europa und Berlin fast vergessen ist. Am Reichstagspalais in der Wilhelmstraße, wo die Verhandlungen stattfanden, erinnert eine verwitterte Tafel an das Ereignis, angebracht haben sie vor zehn Jahren afrikanischstämmige Berliner. Der 125-jährige Jahrestag der Konferenz im Jahr 2009/2010 wurde von der deutschen Regierung ignoriert. Auch in der deutschen Geschichtsschreibung spielt die Konferenz kaum eine Rolle, in vielen Schulbüchern fehlt sie komplett.

Ausman spricht im Hörsaal 2002 jedenfalls nicht von Ratten am Oranienplatz oder Räumung des Camps

Während also die Berliner Politik und auch die Berliner Öffentlichkeit ihren Blick auf die Flüchtlinge am Oranienplatz immer weiter verengt, über Zuständigkeiten spricht oder Hygienemängel, aber kaum noch von deren Anliegen, sind die dort Lebenden gedanklich in ganz anderen Sphären unterwegs. Die denken an Weltpolitik, an Weltgerechtigkeit, an globale Verantwortungen. Vielleicht sind diese unterschiedlichen Blickrichtungen mit ein Grund dafür, dass die Kommunikation zwischen dem zuständigen Bezirksamt und dem Protestcamp hakt.

Ausman im Hörsaal 2002 jedenfalls spricht nicht von Ratten am Oranienplatz oder Räumung des Camps. Er sagt, dass Europa und die USA auch heute noch großen Einfluss auf dem afrikanischen Kontinent ausüben, indem sie korrupte Regierungen unterstützten und ihren Firmen so Zugriff auf die Rohstoffe und auf die Wirtschaft der Länder sicherten. Und dass sie mit diesem Einfluss etwas Besseres anfangen könnten.

Die große Reise nach Kreuzberg, die hinter ihm liegt, hat ihn auch innerlich verändert.

Ausman kam von Mali über Libyen nach Berlin-Kreuzberg.
Ausman kam von Mali über Libyen nach Berlin-Kreuzberg.

© Veronica Frenzel

Dass Ausman, der in Mali lediglich Schmuck bastelte und später in Libyens Restaurantküchen aushalf, heute so spricht, liegt an Patras Bwansi, einem der Anführer der Oranienplatz-Flüchtlinge. Bwansi hat sich in seiner Heimat Uganda für die Rechte von Homosexuellen eingesetzt – in Uganda ist Homosexualität strafbar –, wurde deshalb selbst verfolgt und landete irgendwann in einem Flüchtlingsheim in Passau. Dort gründete er eine Protestgruppe und kurze Zeit später organisierte er den Protestmarsch mehrerer Flüchtlingsgruppen nach Berlin, der im Herbst 2012 im Protestcamp auf dem Oranienplatz endete. Dort initiierte Bwansi die „African Refugees Union“. Ausman wurde zum Begleiter von Bwansi. Er ging mit ihm zu Demonstrationen, verfolgte an seiner Seite die Debatten im Zirkuszelt, dem Versammlungsraum des Protestcamps, hörte die Forderungen: Abschaffung der Residenzpflicht, Verbot von Abschiebungen, Abschaffung der Flüchtlingsheime, Recht auf freie Wahl des Wohnortes, Recht auf Arbeit, Recht auf Bildung. Ausman findet das alles richtig. Im Grunde selbstverständlich. Er sagt: „In meiner Heimat Timbuktu sagen die Leute traditionell zu Neuankömmlingen, ,Du hast dein Zuhause verlassen, willkommen zu Hause.’ Es wäre schön, wenn es überall und immer so wäre.“

Inzwischen hat er allerdings selbst erlebt, dass so in Europa nur wenige denken – und als Patras Bwansi ihn fragte, ob er mitmachen wolle bei der „African Refugees Union“, stimmte er zu.

Seit der Flüchtlingskatastrophe von Lampedusa hat sich nicht viel geändert

Das war kurz nachdem im November mehr als 300 Flüchtlinge vor der italienischen Insel Lampedusa ertrunken waren und als Europas Politiker schockiert erklärten, solche Tragödien müsse man in Zukunft vermeiden, ein Kurswandel in der Asylpolitik sei nötig. Passiert ist seither eher das Gegenteil: Die Europäische Kommission plant gerade, Europa noch mehr abzuschotten, unterstützt auch von der neuen Bundesregierung. Die Transitstaaten, über die Flüchtlinge einreisen, sollen noch stärker in die Pflicht genommen werden und Flüchtlinge zurücknehmen. Tunesien und Marokko haben sich in Kooperationsabkommen bereits zur vorverlagerten Grenzsicherung der EU-Staaten verpflichtet. Abkommen mit Libyen, Ägypten und Algerien sollen folgen. Doch unumkehrbar ist Lampedusa in derselben Zeit im öffentlichen Bewusstsein das Synonym für unmenschliche Flüchtlingspolitik geworden.

Die Insel war auch eine Station auf dem langen Weg Ausmans von Timbuktu über Tripolis nach Berlin. Ausman lächelt, wenn er von Libyen erzählt. In der Hauptstadt Tripolis fand er sofort die Anstellung und ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft. Er lernte bald andere Einwanderer aus Mali kennen, abends kochten sie meistens gemeinsam, schauten malisches und französisches Fernsehen, und wenn sie einen Tag frei hatten, flanierten sie durch die prächtigen Einkaufszentren. Wenn er ein wenig mehr Geld brauchte, arbeitete er in seiner freien Zeit zusätzlich auf Baustellen. An Arbeit mangelte es nie. Er sagt, „ich wäre gern dort geblieben“.

„Wir können nicht nach Hause, hier können wir auch nicht bleiben, wir müssen weiter.“

Doch als im Februar 2011 der Krieg anfing, änderte sich alles. „Wir Schwarzafrikaner waren von da an immer der Sündenbock, egal was passierte. Wenn irgendwo eingebrochen wurde, wenn jemand überfallen oder umgebracht wurde, waren wir schuld.“

Ausman erzählt, dass viele seiner Bekannten von den Rebellen aus dem Land geworfen wurden, dass viele Schwarzafrikaner gegen ihren Willen auf die Boote nach Lampedusa gedrängt wurden. Nichtregierungsorganisationen bestätigen, dass Afrikaner während des Libyenkriegs zur Flucht gezwungen wurden, wenn die Regierung sie für Söldner Gaddafis hielt. Während der letzten Monate in Libyen verließ Ausman seine Wohnung nicht mehr.

Obwohl er nicht wollte – in Dokumentarfilmen hatte er gesehen, wie elend es afrikanischen Flüchtlingen in Europa geht –, stieg schließlich auch Ausman auf ein Boot nach Italien. Ein Freund überredete ihn, er sagte, „wir können nicht nach Hause, hier können wir auch nicht bleiben, wir müssen weiter“.

An einem Abend im April 2011 stiegen die beiden auf ein Schiff, in dem schon 500 Menschen saßen und standen, und in dem offiziell höchstens Platz war für 300 Passagiere. Jeder durfte als Gepäck nur eine kleine Tasche mitnehmen. Ausman und sein Freund hatten ein wenig Geld eingesteckt, ihre Telefone, viel zu wenig Wasser, viel zu wenig Proviant. Drei Tage und drei Nächte dauerte die Überfahrt. Sieben Passagiere gingen über Bord, das Schiff hielt nicht an, um sie zu retten.

4233 Kilometer Luftlinie liegen zwischen Timbuktu und Kreuzberg

Noch vor Lampedusa holte die italienische Polizei die Flüchtlinge aus dem Boot und brachte sie in das Lager auf der Insel. Von dort wurde Ausman wenig später in ein Flüchtlingsheim nach Norditalien gebracht. Er beantragte Asyl, der Antrag wurde abgelehnt, Ausman blieb trotzdem. Wo sollte er auch hin? Er ging zum Anwalt einer Flüchtlingshilfsorganisation und erhielt ein kleines Zimmer in einer Wohnung in einem Flüchtlingswohnheim, in der schon neun andere schwarzafrikanische Flüchtlinge lebten, in der Nähe vom Comer See. Er bekam auch ein Papier, auf dem stand, dass er drei Jahre geduldet würde und arbeiten dürfe. Jeden Tag stand er frühmorgens auf, um Arbeit zu suchen, doch er fand nicht einmal einen Job für ein paar Stunden.

Im März 2013, so erzählt Ausman, mussten er und die anderen die Wohnung verlassen. Ein Sozialarbeiter erklärte ihnen, die Regierung habe jede Unterstützung für Flüchtlinge gestrichen. Und er sagte, in Italien hätten sie keine Chance, sie sollten nach Frankreich oder nach Deutschland gehen, und gab ihnen etwas Geld. Ausman verbrachte danach drei Nächte auf der Straße. Als er zwei Polizisten traf, sagten die zu ihm: Was machst du noch hier? Geh nach Sizilien, da ist es warm, da kannst du gut draußen schlafen.

In dem Moment beschloss er, Italien zu verlassen. Er dachte, „wenn ich jemals in Europa einen Job finden will, dann sollte ich nach Deutschland gehen, in das wirtschaftlich stärkste Land“. Am nächsten Tag saß er im Zug nach Berlin, Afrikakonferenzstadt, Elendsursprungsort. Es macht für ihn einen Sinn, wenigstens das.

Die große Reise, 4233 Kilometer Luftlinie liegen zwischen Timbuktu und Kreuzberg, die hinter ihm liegt, hat ihn auch innerlich verändert. Aus dem fröhlich-unbeschwerten Teenager ist ein Aktivist geworden, der etwas will. Ziel war das nicht. Er sagt: „Hätte ich mir in Italien ein Leben aufbauen können, dann wäre ich geblieben. Wenn ich in Libyen hätte bleiben können, wäre ich geblieben. Und hätte ich in meiner Heimat eine Chance auf ein anständiges Leben gehabt, ich wäre geblieben.“ Er blickt freundlich. Doch das Leben habe ihn nach Berlin geführt.

*Ausman ist ein Pseudonym. Sein richtiger Name ist der Redaktion bekannt.

Dieser Artikel erscheint im Kreuzberg Blog, dem hyperlokalen Online-Magazin des Tagesspiegels.

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