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Der zeitlose Gänsemarsch wurde 1924 vor der Remise im Hof der Kleinkinderbewahranstalt aufgenommen.

© Archiv der Kirchengemeinde

Einer der ältesten Kindergärten Berlins: Kita der Gemeinde Heiligkreuz-Passion feiert 175 Jahre Bestehen

Einst bändigte hier eine Erzieherin 160 kleine Proletarier. Nun gibt es sogar Männer! Die Kita 1 der Gemeinde Heiligkreuz-Passion feiert heute ihre 175-jährige Geschichte – mit einem Straßenfest.

Wenn am Sonnabend das Nasenflötenorchester trötet, die TschickiTschickiBängBängs Kinderlieder schmettern und eine kunterbunte Geburtstagspiñata – eine gigantische lateinamerikanische Pappmaché-Torte, die mit Süßigkeiten gefüllt ist – vom gierigen Nachwuchs der Schwiebusser Straße geplündert wird, ist die kiezergreifende Jubiläumsparty für die Kita 1 schon gerettet. Das 175 Jahre bestehende pädagogische Institut, eines der ältesten seiner Art in Berlin, logiert erst seit den letzten Tagen des Ersten Weltkrieges kurz vor dem Platz der Luftbrücke: im schattigen Erdgeschoss eines um 1900 erbauten Mietshauses. Am 15. Mai 1839, bei der Eröffnung dieser Einrichtung als 23. Anlaufstation des „Vereins zur Beförderung der Klein-Kinder-Bewahr-Anstalten“ an ihrer ersten Adresse Neue Schönhauser Straße 4, war die Party, zu der das Gründer-Gremium honoriger Damen damals geladen hatte, vermutlich etwas weniger lustbetont organisiert.

Denn eigentlich verstand sich der Verein, den bürgerliche Gattinnen 1833, evangelikal motiviert und mit königlicher Unterstützung ins Leben gerufen hatten, nicht als pädagogisches, sondern als missionarisches Präventionsprojekt. Die Biedermeier-Gesellschaft hatte in jenen Jahren das Kind als Respektsperson und die Kindheit als schützenswerte Entwicklungsphase noch nicht wirklich entdeckt. Auch manche Erziehungsideen, die seit Jahrhundertbeginn schon diskutiert worden waren – Entwicklung zur Nützlichkeit à la Basedow oder individuelle Förderung à la Pestalozzi – sind für die frommen Damen kein Thema. Ihre eigene Brut wird, auf die eine oder andere Weise, von Gouvernanten und Hauslehrern domestiziert. Die Bewahranstalten jedoch dienen dem Zweck, Sprösslinge des wachsenden Industrieproletariats vor dem Schlimmsten zu behüten: Damit Kleinkinder, soweit beide Eltern schuften müssen, nicht in Geschwisterobhut oder aufsichtslos den Risiken des Großstadtlebens ausgesetzt sind und vom „rechten Pfad“ abkommen.

Der Buddelkasten war schon 1919 eine Welt für sich.
Der Buddelkasten war schon 1919 eine Welt für sich.

© Archiv der Kirchengemeinde

Der Betreuungsschlüssel, den die ersten dieser Pionier-Anstalten für solch eine Aufgabe ansetzen, lässt über Sicherheitsverwahrung hinaus tatsächlich kaum Spielraum. Eine Erzieherin auf 160 Bälger! Die wird dabei bestenfalls von der eigenen Familie unterstützt, von der Schwester, vom einheizenden Ehemann. Kita 1, die zu dieser Zeit noch Bewahranstalt Nr. 23 heißt, muss innerhalb der Rosenthaler Vorstadt immer wieder weiterwandern: wegen der Abrisse im boomenden Berlin, weil Mieten steigen, weil der Verein den Umzug in selbst erbaute Immobilien verfügt (durch die er sich finanziert). Als man 1874 zur Ackerstraße zieht, in die Nachbarschaft der berüchtigten 2000-Mieter-Kaserne Meyer’s Hof, hat sich am Betreuungsschlüssel wenig geändert. Erst nach dem letzten Kiezwechsel zum Hof der Fidicinstraße 18, identisch mit der heutigen Adresse Schwiebusser Straße (die damals noch ungepflastert war), verbessert sich dieser Aspekt. Während der Weimarer Republik erreichen pädagogische Visionen vom Spielen und Vorschul-Lernen die Bewahranstalt, nun kommen auf fünf Betreuer 40 Kinder. Friedrich Fröbels programmatischer Begriff Kindergarten, in dem die Idee „schöne Kindheit“ anklingt, verdrängt das Verwahrungskonzept.

Während des „Dritten Reiches“ tritt die Anstaltsleiterin der NS-Volkswohlfahrt bei, zugleich versteckt sie Dissidenten. Nach 1945, im Trümmer-Berlin, fehlen dem Träger-Verein, ohne Immobilien, nötige Einnahmen: Er bittet die Evangelische Gemeinde Passion um Hilfe, von der die Kita 1 schließlich 1969 übernommen wird und ihren heutigen Namen erhält.

In der Kita 1 sieht es aus wie in einer Kita: Holzmöbel, Spielzeug, etwas muffiger Geruch, Trommeln, drumherum ein Gewusel lärmender Niedlichkeiten. Hanno Hochmuth ist Zeithistoriker, vor allem aber Vater zweier Söhne: Er hat die Geschichte ihres wunderbaren Verwahrhauses erforscht. Erziehungsberechtigte werden hier nicht zum Mitmachen genötigt, sondern nach Talenten gefragt, die sie jeweils einbringen möchten: Der eine kann Puppentheater, andere singen, backen, fotografieren. Im Dezember präsentieren sich Väter und Mütter Tag für Tag als „lebendiger Adventskalender“.

Als Ute Mechler 1996 Kita-Chefin wurde, dachte sie, so viel Historie schiebe uralte Regelwerke vor sich her, so war es nicht. Mit den 80er Jahren kam der Trend zum Elterneinsatz und zum Kinderladen. Heute schätzen Eltern an Kita 1, dass sie zuverlässig ist wie ein Kindergarten und mit 34 Zöglingen klein wie ein -Laden: sagt Erzieher Winfried Wilms. Zwei von fünf Pädagogen sind hier Männer – die jüngste umwälzende Konzeptneuerung. Noch 2001, sagt Ute Mechler, sei das Misstrauen gegen maskuline Eindringlinge im Frauenreich Kita unüberwindbar groß gewesen.

Pustekuchen. Die Torte für die uralte Kita ist aus Pappmaché und mit Süßigkeiten gefüllt. Am Sonnabend soll sie das Fest an der Schwiebusser Straße versüßen.
Pustekuchen. Die Torte für die uralte Kita ist aus Pappmaché und mit Süßigkeiten gefüllt. Am Sonnabend soll sie das Fest an der Schwiebusser Straße versüßen.

© Kai-Uwe Heinrich

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