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Zur Sonne, zur Freiheit. Am Freitagabend machten sich mehr als 1000 Radfahrer auf den Weg durch die Stadt. Allein durch ihre schiere Anzahl konnten sie die Straße für sich reklamieren.

© Christian Mang

Kreuzberg: Phänomen Massenradeln: Critical Mass erreicht Straßen von Berlin

Immer am ersten Juni-Sonntag treffen sich Hunderttausende zur Fahrradsternfahrt. Doch in Kreuzberg es gibt Radler-Demonstranten, die sogar einmal im Monat die Straße für sich reklamieren. Sie setzen auf die "Critical Mass". Was steckt dahinter?

Noch stehen alle mit ihren Rädern auf dem Kreuzberger Heinrichplatz und warten – worauf eigentlich? Wer gibt den Startschuss? Und wo geht es überhaupt hin? Plötzlich schwenkt jemand eine Fahne, rundherum schwillt ein Klingel-Konzert an. Mehr als 1000 Fahrräder setzen sich in Bewegung – die „Critical Mass“ hat begonnen, eine Aktionsform, die es in den USA schon seit 1992 gibt, und mittlerweile in vielen Städten überall auf der Welt regelmäßig begangen – oder besser: befahren – wird.

An jedem letzten Freitag im Monat treffen sich abends hunderte bis tausende Radler in Kreuzberg, um für ein paar Stunden die Straßen zu erobern. Auch am ersten Sonntag eines Monats gibt es eine Critical Mass, die heute aber wegen der Sternfahrt ausnahmsweise ausfällt.

Angemeldet wurde auch diese Freitags-Fahrt nicht, auch einen offiziellen Organisator gibt es nicht. „Es ist keine Demonstration im juristischen Sinne“, sagt Bernd-Michael Paschke, der seit vier Jahren regelmäßig mitfährt. Das Ganze hat eher den Charakter einer mobilen Straßenparty, woran auch einige Lastenräder mit großen Boxen ihren Anteil haben. Eine Botschaft gibt es dennoch: „Das Rad ist ein alternatives Verkehrsmittel und gehört zum Straßenverkehr genauso dazu wie das Auto“, sagt Christian Brandt, ebenfalls langjähriger Critical-Mass-Fahrer.

Über die Oranienstraße wälzt sich bald ein über ein Kilometer langer Fahrrad-Bandwurm Richtung Innenstadt. Die Route ergibt sich spontan, an der Spitze wird diskutiert, wo es als nächstes hingehen soll. Autofahrer aus Seitenstraßen oder hinter dem Zug haben schlechte Karten: Die Reaktionen reichen von Achselzucken über fröhliches Winken bis hin zu offener Aggression, was sich in Beschimpfungen, Hupen, dichtem Auffahren und auch mal einem geworfenen Gegenstand äußert. Letztlich müssen sie alle warten – für diesen Moment sind die Radfahrer der dominante Verkehrsteilnehmer.

Die Polizei gibt Geleitschutz

Aber sind Massenfahrten überhaupt legal? Sie sind es: „Nach Paragraph 27 der Straßenverkehrsordnung dürfen mehr als 15 Radfahrer zusammen einen geschlossenen Verband bilden“, sagt Paschke. Auch die Berliner Polizei hat dies akzeptiert und gibt dem Zug sogar Geleitschutz und sperrt Seitenstraßen ab – auch, um Durchbruch- und Überhol-Manöver von Autofahrern vorzubeugen.

Vorbei geht es am Axel-Springer-Gebäude, dann auf die Köpenicker Straße Richtung Oberbaumbrücke. Die Critical Mass-Regeln sehen vor, dass man den Autoverkehr möglichst nicht behindert. In der Praxis funktioniert das nicht immer: Eigentlich soll eine Spur freigelassen werden, doch über weite Strecken werden zweispurige Straßenseiten komplett belegt, das Vorbeifahren ist unmöglich. Der durchschnittliche Critical-Mass-Fahrer ist männlich und zwischen 20 und 30 Jahre alt, vereinzelt sieht man jedoch auch Senioren oder Familien mit Kindern im Verbund mitgondeln. Die Masse passiert den Potsdamer Platz und das Brandenburger Tor. Die Stimmung ist ausgelassen und euphorisch – wann kann man schon mitten auf der Straße des 17. Juni fahren und für eine Viertelstunde den gesamten Kreisverkehr rund um den Großen Stern belegen?

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