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Hildegard Frisius, 79 Jahre, pensionaierte Ärztin und seit 2004 Initiatorin der Stolpersteinverlegungen in Lichterfelde, zeigt die Rundbriefe der Bekennenden Kirche 7 und 8, Ausgabe 7 berichtet über deportierte Pfarrer, Nummer 8 wurde verboten.

© Christoph Stollowsky

100 Jahre Johannesgemeinde Lichterfelde: Die Gestapo kam zum Gottesdienst

Die Johannesgemeinde in Lichterfelde-West blickt auf 100 Jahre zurück. Es gibt viel zu erzählen - vom Kirchenkampf, Frauenrechten, einem eigenen Tramanschluss, viel musikalischer Kompetenz und Flüchtlingsengagement.

Der Raum im Gemeindehaus an der Ringstraße 36 ist nur ein paar Quadratmeter groß. Alte Leitz-Ordner, Broschüren und Bücher in den Regalen rundherum. Vorhänge zugezogen. Sieht aus wie ein Aktenlager. Hildegard Frisius knipst das Licht an, holt einen Ordner auf den Tisch, zieht ein Blatt aus seiner Schutzhülle. Die Zeilen extrem eng getippt, das Papier vergilbt. Ein illegaler Brief vom 10. Januar 1935 an ausgewählte Empfänger.
„Die Zerstörung der evangelischen Kirche durch die Deutschen Christen schreitet voran“, schreibt der damalige Pastor Will Praetorius. „Wir müssen endlich Einhalt gebieten.“ Hildegard Frisius, 79, pensionierte Ärztin, seit 2004 Initiatorin der Stolpersteinverlegungen in Lichterfelde, erzählt im Archiv der Johannesgemeinde Lichterfelde-West vom Kirchenkampf zur NS-Zeit. Eindrucksvolle Dokumente hat sie parat.

Johannesgemeinde 1914 bis 2014: Die Protestanten von Lichterfelde-West blicken derzeit zurück auf ein Jahrhundert deutscher Geschichte, dessen Ereignisse sich am Beispiel ihrer Gemeinde wie unterm Brennglas konzentriert schildern lassen. Rolf Lüpke, 74, sitzt am PC in seiner Wohnung an der Pfleidererstraße und ruft eine historische Bildergalerie auf. Zusammen mit Hildegard Frisius und Gottfried Brezger, Pfarrer im Ruhestand, hat er die Jubiläumsausstellung und -Broschüre erarbeitet. „Hier“, sagt er und deutet auf einen Straßenbahnzug anno 1914. Die Tram stoppt vor der Kirche an der Ringstraße und dem einstigen Friedrichplatz, der seit 1956 Johanneskirchplatz heißt. „Wer erinnert sich noch, dass Trambahnen bis zu den 60er Jahren durch Lichterfelde kurvten?“

Zu Beginn des Ersten Weltkrieges war die Kirche fertig

„Die Elektrische fährt hin“ heißt es im Einladungsbrief zur Grundsteinlegung der Johanneskirche am 1. Mai 1913. Die Kleiderordnung war streng: „Gehrock, schwarze Binde“. Auf einem Eckgrundstück entstand ein in Berlin bis heute höchst ungewöhnliches rundes Gotteshaus. Im Parterre der Gemeindesaal, darüber die Kirche mit Altar und Orgel, gekrönt von einem Kuppeldach mit dem Geläut in der Laterne. Glockenturm? Gibt’s nicht. Architekt Otto Kuhlmann hatte sich das ausgedacht, weil der Bauplatz recht klein war.

Die einen fanden seine Idee genial, andere schimpften: „Über Treppen zur Kirche hoch – unmöglich!“ Es war die Zeit, als die Gartenstadt Lichterfelde im Südwesten Berlins rapide wuchs. Als Konfirmanden noch getrennt unterrichtet wurden – nach Mädchen und Jungen, nach Schülern von Volksschule oder höheren Instituten. Als Kirche und Thron noch fest zueinanderstanden.

Pastor Will Praetorius setzte sich für die Bekennende Kirche ein.
Pastor Will Praetorius von der Johannesgemeinde in Lichterfelde-West setzte sich für die Bekennende Kirche ein.

© Gemeindearchiv

Zu Beginn des Ersten Weltkrieges war die Kirche fertig. Zur Einweihung am Himmelfahrtstag 1914 erbat die Gemeinde Gottes Segen für die „Erhebung unseres Volkes zum Schutz des deutschen Landes und zur Abwehr der Feindesscharen“. Erst die Listen der Gefallenen dämpften die Kriegsleidenschaft. Es folgten die liberalen Zwanzigerjahre. Erstmals durften Frauen ab 1921 den Gemeindekirchenrat wählen und selbst kandidieren, Kirche und Staat waren nun getrennt, bis die Nazis den Totalitätsanspruch durchsetzten.

Hildegard Frisius greift im Archiv zu einem weiteren Ordner. „Rundbriefe der Bekennenden Kirche“ steht auf dem Rücken. Die komplette Sammlung bis zum Verbot Ende 1935. Pfarrer Will Praetorius gab die reichsweit verteilten Briefe heraus. In ganz Lichterfelde hatte die Bekennende protestantische Kirche (BK) besonders viel Rückhalt. Sie stemmte sich gegen die Deutschen Christen, die den Glauben germanisieren wollten, das Alte Testament als jüdisch ablehnten und tönten, Hitler handele im Geiste Jesu.

Pastor Praetorius lässt heimlich Flugblätter verteilen

Schon 1933 beantragten Deutsche Christen in Lichterfelde-West „fremde Bezeichnungen wie Halleluja oder Hosianna durch deutsche Ausdrücke zu ersetzen“. Will Praetorius klagt im Rundbrief Nummer 1, die Bekennende Kirche gelte als Staatsfeind, berichtet in Nummer 7 über Pfarrer, die ins KZ deportiert wurden.

Kirchenkampf tobt in Berlin. Die Deutschen Christen versuchen Gemeindevertretungen zu erobern. Sogar Massen-Trauungen von SA-Leuten werden dafür in Steglitz organisiert. Sie erreichen knapp ihr Ziel, doch nicht nur bei „Johannes“, sondern in ganz Lichterfelde stehen fast alle Pfarrer gegen sie auf. Im Saal der Johanneskirche stören Nazis Laienkurse, Will Praetorius lässt heimlich Flugblätter verteilen, wird beschimpft. Bei einer Predigt des Lichterfelder Superintendenten Max Distel in der Johanneskirche sitzt die Gestapo dabei. „Meine Herren, Sie brauchen nicht mitzuschreiben“, ruft Distel aus. „Sie bekommen nachher mein Manuskript.“

Damals fuhr sie noch: Die Tram in Lichterfelde vor der Johanneskirche.
Damals fuhr sie noch: Die Tram in Lichterfelde vor der Johanneskirche.

© Archiv/Stollowsky

Doch nach 1936 stellen auch die Licherfelder BK-Pfarrer arische Abstammungsurkunden aus, halten sogar nach der Pogromnacht 1939 still, bei der auch am Karlplatz nahe der Johanneskirche ein jüdischer Händler terrorisiert wird. Hildegard Frisius hat alle Gemeindeveröffentlichungen dieser Tage durchstöbert. Sie fand „kein Wort dazu“. Die Mehrheit der BK-Pfarrer stand nicht wie Dietrich Bonhoeffer gegen die Unmenschlichkeit auf, „sondern nur gegen den ideologischen Missbrauch ihrer Religion“. Man suchte Kompromisse mit den Nazis. Eine Illusion. Will Praetorius wurde 1940 verhaftet, aus Berlin ausgewiesen. 1969 gesteht er das in seinen Lebenserinnerungen bitter ein: „Wir waren dieser Problematik damals geistlich nicht ganz gewachsen.“
Heute engagiert sich die Gemeinde für Menschenrechte und gegen Fremdenhass, unterstützt die Gemeinde Sozialarbeit in Slums von Chile, ist Partner der „Church of Hope“ in Ramallah im palästinensischen Westjordanland, engagiert sich in der Flüchtlingspolitik und hat sich mit musikalischem Engagement einen Namen gemacht. „Glaube“, sagt Hildegard Frisius, „muss sich doch konkret im Alltag bewähren.“

Der Autor ist Redakteur in der Berlin-Redaktion des Tagesspiegels. Der Text erscheint auf dem Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin aus dem Südwesten.
Die Festschrift „100 Jahre Nachbarschaft“ ist für 10 Euro im Gemeindebüro erhältlich, Ringstraße 36, Mo., Mi.& Fr. 10 – 12 Uhr,
Do. 17 – 19 Uhr, Tel.: 8337029. Außerdem in Buchläden, dort kostet die Broschüre 19,90€.

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