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Sprachkurs in der Vorhalle der Onkel-Tom-Sporthalle, Ina S. und ihre Frauen.

© Nicki Pawlow

Begegnungen mit Flüchtlingen in Berlin-Zehlendorf: Haben wir eine andere Wahl als zu helfen?

Unsere Autorin hatte Angst und fragte sich: Was haben wir uns aufgeladen mit den vielen Flüchtlingen? Ihr Essay erzählt, was sie erlebte, als sie beschloss, sich selbst ein Bild zu machen.

"Male mal ne Ananas!" Ich sehe die Frau, die das von mir fordert, fragend an. „Wir brauchen das A für den Alphabetisierungskurs. A wie Ananas!“

Während ich, so gut es geht, eine Ananas auf ein Blatt Papier male, erfahre ich, dass sich nebenan spontan einige deutsche Frauen mit Flüchtlingsfrauen zusammengefunden haben, die nicht lesen und schreiben können. Kurz darauf höre ich aus dem Nebenzimmer „Aaa, Mmm, Ooo“. Die Frauen sprechen im Chor: „A - na - nas! Ma - ma, O - ma!“

Ich falte weiter Papierschiffchen mit den Flüchtlingskindern, baue Legotürme, male Schneemänner und verspüre dabei den Wunsch, beim Alphabetisieren mitzumachen. Es ist der 12. Dezember 2015, ich bin beim samstäglichen Begegnungscafé, das die Ernst-Moritz-Arndt Gemeinde (EMA) mit dem Kiezverein Papageiensiedlung e.V. für die Flüchtlinge organisiert, die seit Ende Oktober 2015 in der Turnhalle, in der Onkel-Tom-Straße untergebracht sind. Immer gibt es Kaffee, Tee und kalte Getränke, selbstgebackene und gekaufte Kuchen, Kekse und Obst – überwiegend Spenden oder von der EMA finanziert.

Das Begegnungscafé, das in den Räumen der EMA stattfindet, ist stets sehr gut besucht – sowohl von den Flüchtlingen, als auch von deutschen Helferinnen und Helfern, die meist hier im Kiez leben. Es gibt einen Plan, in den sich jeder eintragen kann. Wer will in der Küche helfen? Wer baut Stühle und Tische auf und ab? Wer möchte sich mit den Flüchtlingen (immer sind Übersetzer anwesend) unterhalten? Wer bespaßt die Kinder?

Und nun gibt es also auch einen Alphabetisierungskurs für Flüchtlingsfrauen, immer samstags von 16 bis 17 Uhr. Die 15 Frauen kommen aus Afghanistan, Syrien, Pakistan. Die älteste ist 48, die jüngste 20. Sie sprechen Farsi und Arabisch. Schreiben und Lesen haben sie nicht gelernt, nie eine Schule besucht.

Überall in Deutschland wird Deutschunterricht für die Geflüchteten angeboten. Meistens kümmern sich ehrenamtliche Helferinnen und Helfer.
Überall in Deutschland wird Deutschunterricht für die Geflüchteten angeboten. Meistens kümmern sich ehrenamtliche Helferinnen und Helfer.

© dpa

Ich spreche Katja T. an, die die Idee für den Alphabetisierungskurs hatte. Sie ist Psychotherapeutin und erzählt, dass sie die Frauen gefragt habe, warum sie denn nicht die Sprachkurse des Kiezvereins Papageiensiedlung e.V. besuchten, die dreimal wöchentlich in der Bruno-Taut-Galerie im U-Bahnhof Onkel Toms Hütte stattfinden. Und dass die Frauen daraufhin betreten schwiegen. Bis eine sich endlich getraute zu sagen, dass der Deutschunterricht dort ja für die Flüchtlinge sei, die bereits lesen und schreiben könnten. Sie hingegen könnten es nicht, würden es aber gern lernen. Katja T. signalisierte, dass sie helfen könne. Die Frauen fügten hinzu, dass sie ohne ihre Männer lernen wollten. Weil sie sich dann entspannter fühlten. Die Männer ihrerseits, fanden die Idee mit dem Kurs gut und bestärkten Katja T. in ihrem Vorhaben: „Bitte unterrichten Sie unsere Frauen!“

Die handelte sofort. Sie bat die Frauen in ein leeres Nebenzimmer und schob Tische und Stühle zu einer großen Runde zusammen. Dann malte sie die Buchstaben A , M und O auf weißes Papier und legte los. Seither lernen Samira, Leila, Fatima sowie die übrigen Frauen das deutsche Alphabet. Und seit der zweiten Unterrichtsstunde bin ich mit weiteren Helferinnen mit dabei.

Motiviert, wissbegierig, dankbar

Auch in der Onkel-Tom-Halle bin ich aktiv. Dort findet nämlich seit November an zwei Vormittagen in der Woche ebenfalls ein Alphabetisierungskurs für „unsere“ Frauen statt, von dem wir erst kürzlich erfuhren. Installiert hat diesen Kurs die Leiterin der Notunterkunft, Veronica Großmann. Für den Unterricht konnte sie Ina S., eine erfahrene Deutschlehrerin, gewinnen. Glücklicherweise klappte es sofort, beide Kurse aufeinander abzustimmen, ohne Kompetenzgerangel. Katja T. und Ina S. tauschen sich regelmäßig aus, wie weit sie im Unterricht jeweils gekommen sind.

Gearbeitet wird mit einem Lehrbuch, das die Alphabetisierung und die Vermittlung von Deutschkenntnissen miteinander vereint. Alle lernenden Frauen haben ein solches Buch. Großmann hat die Bücher angeschafft. Hinzu kommt, das jede Kursteilnehmerin (dank Spenden) über Federmappe, Bleistift, Radierer, Anspitzer und Schreibheft verfügt. Katja T. besorgte außerdem Materialien vom Bundesverband Alphabetisierung, die die EMA finanziert. Nun verfügen wir auch über Silbentabellen, Laut-, Bilder- und Zahlenkarten.

So lobenswert die Arbeit dieser freiwilligen Helfer auch ist, sie unterstützen leider auch den Staat dabei, seine Aufgaben weiterhin zu vernachlässigen.

schreibt NutzerIn AdeleSandrock

Die Frauen sind motiviert und begierig zu lernen. Sie sind sehr dankbar. Sie sitzen bereits eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn auf ihren Plätzen und warten auf uns. Wir deutschen Helferinnen – inzwischen sind wir in der EMA neun, in der Turnhalle fünf – mischen uns unter sie, so dass jede intensiv betreut werden kann. Zu Anfang beginnt Katja T. mit einer Vorstellungsrunde: „Ich heiße Katja. Wie heißt du?“ – „Ich heiße Khorshid. Wie heißt du?“ Und so weiter.

Die Kinder werden derweil im Nebenzimmer betreut. Nur die Babys sind bei uns, wenn sie nach der Mutter verlangen. Sind sie unruhig, werden sie gestillt. Es ist den Frauen anzumerken, dass sie wissen, wie wichtig es für sie ist, die neue Sprache zu lernen. Dass es für sie eine (und vermutlich die erste) Chance auf Bildung ist. Manch eine hält hier zum ersten Mal einen Stift in der Hand. Manch eine hat noch nie zuvor in ihrem Leben etwas nur für sich getan. Manch eine ist zunächst auch überfordert und vergisst bis zur nächsten Stunde das Gelernte wieder. Vielleicht ist sie auch traumatisiert. Wir wissen es (noch) nicht.

Manchmal ist es laut und wuselig

Der Unterricht von Katja T. ist kurzweilig. Zahlen aufsagen, leichte Quizübungen wechseln ab mit, Silbenlesen (ma, po, eu, ti), Wörterlesen (Sofa, Info, Tomate) oder Wörterlegen (mit ausgeschnittenen Buchstaben). Es wird konzentriert gearbeitet. Und auch viel gelacht. Dass zwei Übersetzerinnen anwesend sind, erleichtert die Verständigung.

Während der Unterrichtsstunden, die im Vorraum der Turnhalle stattfinden, versucht Ina S. mit ihren Schützlingen möglichst nur Deutsch zu sprechen. „Schlagt bitte Seite 18 auf und lest die Wörter!“ Wir Helferinnen, wiederum unter die Frauen gemischt, unterstützen deren Lese-, Schreib- und Sprech-Übungen. Dieser Unterricht ist klassisch. Die Lehrerin steht vorne, die Schülerinnen sitzen ihr an Holzklapptischen gegenüber. Auch Ina S. und ihre Art zu lehren ist bei den Frauen überaus beliebt. Dabei findet der Unterricht teils unter erschwerten Bedingungen statt. An manchen Vormittagen ist es sehr laut und wuselig. Dann werden die beiden Türen des großen Durchgangsraums, in dem auch Mahlzeiten eingenommen und Gäste empfangen werden, ständig geöffnet.

Kinder, die der Kinderbetreuung entwischt sind, purzeln herein, „Mama, Mama!“ Aber Mama will ja lernen. Also schiebe ich die Hosenmatze wieder liebevoll zur Tür hinaus. Manchmal auch zwei-, dreimal. Dann schlurft ein altes Mütterchen herein, um sich am Samowar einen Tee zu holen (Ich schließe die Tür hinter ihr!).

Der Sozialarbeiter, ein freundlicher Syrer, hat nun endlich verstanden, dass er, wenn er „unseren“ Raum durchschreitet, die Tür hinter sich auch wieder zumachen kann. Dem Putzmann, der mit seinem Putzwagen angerappelt kommt (inzwischen auf Zehenspitzen, einen Finger und einem Lächeln auf den Lippen), halte ich die Tür dann schon mal auf. Trotz alledem kommen wir auch hier gut voran. 21 Buchstaben des deutschen Alphabets sowie die Zahlen 1 bis 20 haben wir schon durchgenommen. Die meisten Frauen können bereits einfache Wörter lesen, schreiben und auch sprechen.

200 Menschen Bett an Bett in einer Turnhalle, ist eine Kunst

Die Jungs vom Sicherheitsdienst schirmen unseren Unterricht ab, so gut es geht, nehmen auch mal die Kinder auf den Arm und haben ein offenes Ohr. Sie sind hilfsbereit, wenn wir was brauchen (Wo ist die Tafel? Wo ein feuchter Wischlappen für die Tische? Die Eddings fehlen!). Ein Zeichen dafür, dass die resolute Leiterin Veronica Großmann ihren Laden gut im Griff hat. Denn das Zusammenleben von 200 Menschen unterschiedlicher Nationalitäten zu managen, die monatelang Bett an Bett in einer Turnhalle miteinander klar kommen müssen, ist eine Kunst.

Ich gehe gern in die Turnhalle und in die EMA, um bei der Alphabetisierung der Flüchtlingsfrauen zu helfen. Ja, ich bin dankbar, dabei sein zu dürfen. Weil es sinnvoll ist. Weil jede(r) in der gegenwärtigen Situation etwas Gutes tun kann. Weil wir ein tolles, effektives Team sind. Weil wir so viel zurückbekommen. Eine bleibende Erinnerung: Wie Sherifeh (eine Frau, die ich bis dahin noch niemals lachen sah) zum ersten Mal ihren Vor- und Zunamen schrieb. Das Leuchten, das dabei ihr Gesicht erhellte, pflanzte sich unmittelbar in mein Herz. Ab sofort kann sie Dokumente eigenhändig unterzeichnen und hat ein gehöriges Stück Selbstbestimmung hinzugewonnen.

Manche der Flüchtlinge, vor allem die Frauen, waren nie in der Schule. Sie sind stolz, wenn sie das erste Mal ihren Namen schreiben können. Das ist praktisch, weil sie dann auch selbst Dokumente unterschreiben können.
Manche der Flüchtlinge, vor allem die Frauen, waren nie in der Schule. Sie sind stolz, wenn sie das erste Mal ihren Namen schreiben können. Das ist praktisch, weil sie dann auch selbst Dokumente unterschreiben können.

© dpa

Ich bin auch mir selbst dankbar. Weil ich meine Berührungsangst überwunden habe. Denn nach anfänglichem Optimismus im vergangenen Sommer und trotz eigener Flucht-Erfahrung, begann da ein diffuses dunkles Bedrohtheitsgefühl zu wuchern, das mir längere Zeit wie ein hässlicher gesichtsloser Schatten folgte. Das nach den Übergriffen in der Silvesternacht in Köln mehr und mehr mein Denken betonierte. Unaufhörlich ratterten krude Gedanken durch meinen Kopf: Was haben wir uns da bloß aufgeladen? Ist es überhaupt zu schaffen? Ist meine kleine Tochter auf der Straße noch sicher? Wann wird es hier den ersten Anschlag/Übergriff geben? Wird unserem schönen, sicheren und freien Leben unwiederbringlich der Garaus gemacht? Ich schlief schlecht. Ich träumte wirres Zeug.

Doch dann schaltete ich die Glotze aus und las die Schlagzeilen nicht mehr. Ich wollte mir selbst ein Bild machen. Ich habe mich auf die Flüchtlinge zubewegt. Kam mit ihnen in Berührung. Und wurde berührt. Auf die Schritte, die meine Beine machten, folgten Schritte im Kopf. Die Erkenntnis nämlich, dass es keine akute dunkle Bedrohung gibt, dass der hässliche gesichtslose Schatten nur in meinen Gedanken existiert. Inzwischen hat er sich aufgelöst. An seine Stelle sind viele Gesichter getreten.

Wir teilen ein Stück Leben, auch wenn es nicht leicht wird

Ich treffe auf ganz normale Menschen wie du und ich – sympathische, unsympathische, laute, schüchterne, selbstbewusste, ängstliche, nervige, interessante. Es sind Leute, die gestern noch ein eigenes Leben hatten und heute in einer Turnhalle wohnen. Manche kenne ich, manche nicht. Wir begegnen uns im Alltag. Sie grüßen mich. Ich grüße sie. Das ist gut so. Das beruhigt. Das ist Normalität. Ich teile mit ihnen ein Stück Leben. Dabei bin ich entspannt, aber nicht euphorisch. Ich weiß, es wird nicht leicht werden. Denn diese Menschen haben eine völlig andere Mentalität als wir. Und ja, es wird auch Konflikte geben. Aber haben wir in dieser globalen Notlage eine andere Wahl als zu helfen?

Wir alle sollten versuchen – so wie hier in unserem kleinen Zehlendorfer Kosmos, so wie an vielen anderen Orten auch – das Beste daraus zu machen. Wir dürfen das Feld nicht dem Mob von Clausnitz überlassen. Wir dürfen uns nicht verrückt machen lassen, denn wir haben die Möglichkeit, immer wieder neu nach Lösungen zu suchen.

Nicki Pawlow ist Schriftstellerin und lebt in Berlin-Zehlendorf. 1977 floh sie mit ihren Eltern aus der DDR. Zuletzt erschien ihr autobiografischer Familienroman „Der bulgarische Arzt“.

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