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Gabriele Schuster, Monika Gesierich, Olaf Schlunke und Kerstin Seller im Archiv des Heimatvereines.

© Anett Kirchner

Besuch im Archiv des Heimatvereins Steglitz: Was uns ein „Nestbuch“ von 1912 erzählt

Das Gedächtnis von Steglitz liegt im Souterrain der Drakestraße 64a. Das Archiv des Heimatvereins beheimatet 19.000 Zeitungsausschnitte, tausende Bilder, Postkarten und Fotos - und wertvolle Erinnerungen an die Zeit des "Wandervogels".

„Wir gingen um den Wandlitzer See herum, am Ufer standen vereinzelte Kiefern, dort ließen wir uns nieder, um unser Frühstück zu bereiten.“ Diese Zeilen schrieb Elisabeth Knothe aus Lichterfelde am 25. Mai 1912 in ein Tagebuch. Sie war Mitglied des „Mädchenwandervogels“, einer Jugendbewegung von Schülern und Studenten, die 1909 in Lichterfelde gegründet wurde. Ihre Aktivitäten – vorwiegend Wanderungen – hielten sie in dem so genannten Nestbuch fest. Dieses Original wird heute im Archiv des Heimatvereins Steglitz gehütet. Es gehört zu den bedeutenden Archivalien in dem Museum an der Drakestraße und stammt aus dem Nachlass von Erdmuth Kuckenburg-Knothe.

Sie war die Tochter der Verfasserin und engagierte sich im Heimatverein Steglitz. „Ein Glücksfall, dass wir so etwas bekommen haben“, sagt Archivleiter Olaf Schlunke. Denn ein derart gut erhaltenes und sorgsam geführtes Nestbuch sei selten. Der Einband ist liebevoll bestickt, die Einträge im Inneren wurden mit Zeichnungen und Fotos ergänzt. Mit diesem historischen Dokument ist es möglich, die Idee und Rolle dieser Jugendbewegung nachzuvollziehen.

Die ersten "Wandervögel" kamen vom Gymnasium Steglitz

„Es war ein Idealbild von Freiheit und Gemeinschaft, dem die Mädchen seinerzeit nacheiferten“, erklärt Olaf Schlunke, der Alte Geschichte und Archäologie studiert hat. Der 40-Jährige ist in Steglitz aufgewachsen, lebte zwischenzeitlich in Freiburg (Breisgau) und ist seit einigen Jahren zurück. Weil ihn die Geschichte seiner Heimat berührt, engagiert er sich im Steglitzer Museum und leitet seit einem Jahr das Archiv. Die erste Gruppe des „Wandervogels“, damals noch ausschließlich mit Jungen, wurde 1901 am Gymnasium Steglitz begründet, wie er weiter erzählt.

Von hier breitete sich die Bewegung deutschlandweit und später europaweit aus. Die Gitarre, die einst dem Gründer des Wandervogels, Karl Fischer, gehört haben soll und die er bei seinen Wanderungen stets mitnahm, wird auch in den Räumlichkeiten des Archivs aufbewahrt. Eine schmale, verwinkelte Treppe führt hinunter in das Souterrain des Steglitzer Museums. Hohe Schränke bis unter die Decke stehen hier, gut gefüllt mit Akten, Karteikarten, Landkarten, Fotos und Büchern. Alles ist fein säuberlich beschriftet. Ein Griff und Olaf Schlunke findet das, was er sucht.

Das Archiv ist online abrufbar - aber ohne Vorschau

Allein zu dem Physiker Manfred von Ardenne, der sein Forschungslabor am Jungfernstieg in Lichterfelde hatte, existieren 44 Dokumente, darunter seine Korrespondenz mit dem Heimatverein. Insgesamt werden hier im Archiv rund 19.000 Zeitungsausschnitte, 1.800 Zeichnungen und Malereien, 2.100 Postkarten, 800 Pläne und Landkarten, 3.800 Bücher sowie etwa 8.000 Fotos aufbewahrt. Des Weiteren gibt es Informationen zu 1.200 bedeutenden Persönlichkeiten, die in Steglitz geboren sind oder hier gewirkt haben. Sämtliche Archivalien sind inzwischen auch online registriert. Bei einer Online-Suche findet man allerdings lediglich die Auflistung der Dokumente mit einer Vorschau, nicht die Inhalte.

Fein säuberlich beschriftet und sortiert: die Archivalien im Souterrain des Steglitzer Museums.
Fein säuberlich beschriftet und sortiert: die Archivalien im Souterrain des Steglitzer Museums.

© Anett Kirchner

„Wenn wir die Informationen kostenfrei ins Netz stellen würden, bräuchten wir dafür finanzielle Mittel und die haben wir nicht“, erklärt der Archivleiter. Deshalb fallen Kosten an; etwa für Kopien oder Digitalisate. Wer Dokumente einsehen möchte, meldet das beim Heimatverein telefonisch oder per E-Mail an, macht einen Termin und kann den Leseraum der Bibliothek nutzen. Archivanfragen von Schulen, Instituten und öffentlichen Einrichtungen sind hingegen kostenfrei.

Um private Anfragen, die in der Regel per E-Mail kommen, kümmert sich meistens Kerstin Seller. „Manche suchen alte Fotografien von ihrem Haus und andere wollen etwas über ihre Familienangehörigen wissen“, erzählt sie. In Zeiten des Internets und der Globalisierung kommen auch immer mehr Anfragen von weither; erst kürzlich aus Australien etwa.

Wo war die Maulbeerplantage in Steglitz?

Wenn es dabei um historische Landkarten und Pläne von dem Stadtteil geht, kennt sich am besten Monika Gesierich aus. Sie ist seit 1995 Mitglied im Heimatverein und hilft seit acht Jahren im Archiv. Die Betreuung der Landkarten ist für sie besonders spannend. „Denn damit kann ich viel über die bauliche Entwicklung von Steglitz erfahren“, verrät sie und erinnert sich an eine Anfrage, bei der jemand wissen wollte, wo einst das Anbaugebiet von Johann Adolph Heese war. Der Seidenwarenproduzent hatte Mitte des 19. Jahrhunderts in Steglitz eine Maulbeerplantage. Heute gibt es deshalb die Heesestraße, die am Gymnasium Steglitz entlang führt.

Mit jeder neuen Anfrage, mit jedem neu hinzugewonnen Dokument und mit dem, was die älteren Steglitzer von früher noch erzählen können, schließen sich die historischen Kreise hier im Stadtgebiet. „Unser Archiv ist das Gedächtnis von Steglitz“, sagt die Museumsleiterin Gabriele Schuster fast ein wenig poetisch. Das Erbe der Gründungsväter des Vereins zu bewahren und zu pflegen, dafür steht sie gemeinsam mit den vielen ehrenamtlichen Helfern.

"Heimat ist das, was wir hatten, was wir haben und was wir haben wollen"

Und es werden weitere helfende Hände gebraucht. Auch zum Beispiel für die Ausstellungen, die jährlich wechselnd im Museum gezeigt werden. Derzeit geht es unter anderem um das Thema „Vom Funk zum Rundfunk“. Dabei wird etwa die Rolle des Lichterfelder Unternehmens Telefunken bei der Entwicklung des Rundfunks vorgestellt.

Wer demnach Lust hat, sich ehrenamtlich zu engagieren, kann einfach in der Drakestraße vorbeischauen. Der Eintritt zur Ausstellung ist frei. Und zum Schluss fällt Gabriele Schuster noch ein Punkt ein, der ihr wichtig ist: nicht nur zurückschauen, sondern immer auch die Gegenwart im Auge behalten. „Denn Heimat ist das, was wir hatten, was wir haben und was wir haben wollen“, beschreibt sie.

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