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Ansturm. Die Berliner S-Bahnen sind oft gut besucht.

© dpa

Der tägliche Wahnsinn auf der S1: Gefangen im Legebatterie-Zug

Überfüllte Waggons, leere Gesichter, kaum Kontrolleure: Was die S1 ihren Kunden in der Rush Hour täglich zumutet, spottet jeder Beschreibung. Besserung ist offenbar nicht in Sicht. Dafür droht der Liegendtransport. Ein Erfahrungsbericht.

Die S1 von Potsdam über Zehlendorf Richtung Anhalter Bahnhof und Frohnau ist eine Lebenslinie für rund 20 000 Pendler täglich. Von Landeshauptstadt zu Hauptstadt, von Potsdam, Babelsberg über Zehlendorf, Mitte bis hin nach Oranienburg. Der Großteil der Kunden hier drin zahlt seine Monatskarte treu. Und scheint zu einer besonderen Spezies Mensch zu gehören: der mit ausgeprägter Leidensfähigkeit, gepaart mit einer Prise Stoizismus.

Okay, über Verspätungen, Baustellen, Zugausfälle, unfreundliche Kontrolleure oder Zugabfertiger bei der S-Bahn muss man sich hier jetzt gar nicht mehr aufregen (wir leben in Berlin, und es gibt sicher auch mal Ausnahmen) - aber was sich die Bahn mit ihren Pendler/Kunden zu Rush-Hour-Zeiten ab 8 beziehungsweise 17 Uhr auf der S1 leistet, das spottet jeder Beschreibung.

Montagmorgen, 8 Uhr 10, S1 von Potsdam Richtung Frohnau. Spätestens ab Rathaus Steglitz sind die drei Doppel-Waggons überfüllt. Rund 100 Menschen in einem Raum, der vielleicht für 50 ausgelegt ist. Wohl dem, der schon vorher in Potsdam oder Wannsee einsteigen konnte. Sein Sitzplatz ist der Hauptgewinn.

All die Leute, die Menschentrauben in Zehlendorf, Lichterfelde-West, später Schöneberg haben Mühe überhaupt noch einen Stehplatz zu finden, darunter eben nicht nur Angestellte, Studenten, Arbeiter, sondern Rentner, Mütter mit Kindern, dazu Fahrräder. Manche bleiben außen vor, warten auf den nächsten Zug, in der Hoffnung, mal einen halbvollen zu erwischen. Könnte aber sein, dass der Zug dann gar nicht kommt, "aus betrieblichen Gründen", wie eine Stimme aus den Lautsprechern am Bahnhof nichts sagend verrät.

S-Bahn als Legebatterie

Die S-Bahn-Fahrt mit Legebatterie-Gefühl also. Gelegentlich erhebt sich ein Murren im Waggon. Über die Monate und Jahre scheint sich Verzweiflung, Apathie in die S-Bahn-Kundschaft geschlichen zu haben. Wenn jetzt noch dieser Typ mit der Gitarre kommt, der gerne mal lästert, wenn die Menschen nicht auf ihnen reagieren... Man wünschte sich stattdessen S-Bahn-Chef Peter Buchner herbei. Auf ein Schwätzchen im Stehen. Kontrolleure trauen sich zu der Zeit auch nicht in die S1. Die wissen, warum. Wie heißt es doch so schön? Die vier ärgsten Feinde der S-Bahn: Frühling, Sommer, Herbst und Winter.

Der Autor Markus Ehrenberg ist Redakteur im Medien-Ressort des Tagesspiegels. Er fährt regelmäßig mit der S1.
Der Autor Markus Ehrenberg ist Redakteur im Medien-Ressort des Tagesspiegels. Er fährt regelmäßig mit der S1.

© privat

Wagennotstand hin, Jahreszeit her. Es kann doch nicht so schwer sein. Wieso wird in dieser einen Stunde zwischen acht und neun Uhr nicht zumindest ein Doppelwaggon drangehängt, wie einst versprochen, bei der jüngsten Preiserhöhung im öffentlichen Nah-Verkehr?

Eine direkte Mail-Anfrage beim "Kundenservice" bei der S-Bahn blieb bislang unbeantwortet. Und der Winter kommt ja erst noch. Wo auf anderen Strecken vielleicht wieder Bahnen ausfallen, ersetzt werden müssen.

He, S-Bahn, die S1 könnte dann auch noch einen Doppelwaggon abgeben, abschneiden. Übereinander liegend könnte aus der Fahrt zur Arbeit ein besonderer Beförderungsspaß werden.

Der Autor ist Redakteur im Medien-Ressort des Tagesspiegels. Der Text erscheint auf dem Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin aus dem Südwesten. 

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