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In Einzelberatung, im Chat oder im Forum - viele Jugendliche öffnen sich lieber einem anonymen Ansprechpartner per Email als ihren Eltern

© Jugendnotmail

Der Verein Jugendnotmail aus Wannsee: 1300 elektronische Hilferufe im Monat

Oft haben Jugendliche keinen Ansprechpartner für ihre Probleme oder schämen sich für ihre Gedanken und Gefühle. In Wannsee bietet seit 15 Jahren ein Verein Kindern und Jugendlichen professionelle Beratung - online, anonym, kostenlos.

Liebeskummer. Angst, vor der Klasse zu sprechen. Und immer wieder Selbstverletzung. Mit Themen wie diesen beschäftigen sich die Jugendlichen im Forum von Jugendnotmail.de. So ritzt sich ein User seit ein paar Monaten „weil ich einfach nicht mehr weiter weiß. Ich hab so viele Probleme, und der Therapeut, die Klinik und Sport können mir nicht helfen (...). Was kann ich noch machen?“ Eine andere Userin schreibt: „Ich habe doch alles erdenklich Gute auf der Welt und eine Familie, die mich über alles liebt... Wieso bin ich trotzdem so unglaublich unglücklich?“ Viele Jugendliche schalten sich in die Diskussionen ein und geben sich gegenseitig Tipps, etwa, was gegen den Drang, sich selbst zu verletzen, hilft. Vor allem bieten auf der Online-Beratungsplattform aber Profis ihre Hilfe in Einzelberatung an.

Ein Gespräch mit Claudine Krause, Gründerin der Website.

Wie kamen Sie 2001 auf die Idee, die Jugendnotmail zu gründen?

Schon als Kind habe ich mich um Kinder gekümmert, die Außenseiter waren. Hintergrund war wohl meine anstrengende Vater-Tochter Beziehung. Als Lehrerin später habe ich dann gesehen, dass viele Kinder was mit sich rumtragen, und habe gemerkt, dass sie oft keinen Ansprechpartner in ihrem Umfeld haben, dem sie sich anvertrauen können. Irgendwann sagte ich mir, es muss was her, wo Kinder Hilfe zur Selbsthilfe bekommen. Damals hielt ja das Internet Einzug in die Kinderzimmer. Ich wusste, dass das die Zukunft ist und habe ein Konzept für eine Online-Beratung entwickelt.

Das Internet war ja Neuland für Sie. Wie hat Ihr Umfeld reagiert, hat man Sie unterstützt?

Ich selbst war von meiner Idee von Anfang an überzeugt - aber es gab viele, die mich abhalten wollten, unter anderem, weil ich ja wirklich keine Ahnung vom Internet hatte. Nur wenige hatten den Eindruck, dass unsere Onlineplattform was bringen könnte. Aber trotzdem habe ich einen Kredit aufgenommen, um die Seite aufzubauen. An Berliner Schulen habe ich auf uns aufmerksam gemacht. Das schlug richtig ein und verbreitete sich dann über Mundpropaganda. Heute denkt keiner mehr darüber nach, ob unsere Seite Sinn macht. Schließlich haben wir bei JugendNotmail inzwischen etwa 95.000 Jugendliche beraten! Bis zu 1.300 Mails bekommen wir monatlich, die müssen alle beantwortet werden. Das leisten derzeit 93 Berater, die alle ehrenamtlich arbeiten.

Wie kann man sich die Beratung und die Korrespondenz vorstellen?

Die Jugendlichen wollen immer sofort Hilfe, wenn sie sich melden. Unser Ziel ist es, innerhalb von 24 Stunden Kontakt aufzunehmen. Die Einzelberatung erfolgt dann auf unserer Sicherheitsplattform. Auch unsere Berater sind über ihre Nicknames eingeloggt, sie treten namentlich nicht in Erscheinung. Wenn beide Seiten anonym bleiben, fällt es, denke ich, den Jugendlichen auch leichter, sich zu öffnen.

Mit welchen Problemen wenden sich die Jugendlichen an Sie?

Die häufigsten Themen sind Selbstverletzung, Depression, auch familiäre Probleme und Suizidankündigungen. Unsere geschulte Beratung leistet keine Therapie. Wir können aber dabei unterstützen, dass ein Jugendlicher in Not sich selbst Hilfe holt oder sich selbst aus einer Stimmung befreit. In der Regel haben die Berater nach zehn Mails eine Lösung gefunden, manchmal brauchen sie aber auch 25 Mails, wenn ein Fall kompliziert ist. Wenn man merkt, dass ein Betroffener allein nicht weiter kommt, wird besprochen, wer helfen kann. Es muss jemand sein, der den Jugendlichen an die Hand nimmt, um eine Lösung umzusetzen. Wir sind dazu da, Präventivarbeit abzudecken, also da Druck abzubauen, wo die Jugendlichen sich unwohl fühlen, und Werkzeuge zu erarbeiten, damit sie sich selbst helfen können. Es gibt aber auch viele Fälle, die schwierig sind, und wo eine Therapie notwendig ist. Manche, die sich melden, sind bereits in Therapie.

Sie hat sich schon als Kind für andere, schwächere Kinder eingesetzt: Claudine Krause betreibt seit 2001 die Online-Beratungsplattform www.jugendnotmail.de
Sie hat sich schon als Kind für andere, schwächere Kinder eingesetzt: Claudine Krause betreibt seit 2001 die Online-Beratungsplattform www.jugendnotmail.de

© JugendNotmail

Wer meldet sich? Woher kommen die Jugendlichen?

Unsere Evaluationen haben ergeben, dass die Jugendlichen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum kommen. Meist handelt es sich um Gymnasiasten. Das geht los ab neun Jahren, die meisten sind aber 14 bis 17 Jahre alt. Viele kommen aus Ballungszentren im Rheinland, in Baden-Württemberg und Bayern und aus Berlin. Run 80 Prozent der Notrufe kommen von weiblichen Teenagern.

Sie sind für Administration und Akquise zuständig. Wer sitzt bei Ihnen am Rechner und berät die Jugendlichen?

Unsere Berater müssen einen sozialpädagogischen Abschluss oder ein psychologisches Studium absolviert haben. Über die Fernuni Hagen sind wir gut mit ehrenamtlichen Beratern versorgt und in „Psychologie Heute“ schalten wir regelmäßig Anzeigen. Denn bei Fällen von Borderline oder Essstörung müssen Profis ran. Und die können auch die Distanz wahren, da sie sich nicht wie Familienmitglieder oder Freunde mit dem Problem der Jugendlichen identifizieren. Bevor jemand bei uns beraten kann, schulen wir hier bei uns in Wannsee in einem Workshop, wie unsere Beratung funktioniert. Unsere ehrenamtlichen Berater arbeiten von zu Hause aus und wenden pro Woche rund drei bis vier Stunden Zeit auf. 2013 sind wir eine Kooperation mit dem Stadtteilzentrum Steglitz eingegangen und haben eine Teilzeitstelle und zwei Honorarstellen für das Büro finanziert bekommen. Es würde uns aber sehr helfen, einen Hauptsponsor zu finden.

Letztes Jahr haben Sie das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen. Die Auszeichnung muss Ihnen doch gezeigt haben, dass Sie alles richtig gemacht haben.

Mein erster Gedanke war ja: Was soll ich damit? Aber dann war ich schon sehr stolz. Das ist ja die höchste Auszeichnung, die man als Bürger bekommen kann. Mein Ego stand aber nie im Vordergrund. Vielleicht bin ich auch deshalb so weit gekommen, weil ich nichts zurückkriegen will. Der Höhepunkt in meinem Leben liegt auf jeden Fall in meinem Engagement für Kinder. Ich habe mich immer gefragt: Wie kann ich sie beschützen? Und das bringt mir, denke ich, die Seelen der Kinder näher. Das möchte ich noch möglichst lange weitermachen.

Was hat sich in den 15 Jahren, seitdem Sie die Webseite betreiben, verändert?

Früher kamen die Jugendlichen mehr mit Liebeskummer und Familienproblemen auf uns zu, heute sind die Fälle von Selbstverletzung und Depression häufiger. Aber das hängt alles miteinander zusammen. Ich würde sagen, die Zeit ist seither schneller geworden, Eltern haben immer weniger Zeit für ihre Kinder, sind sich ihrer Verantwortung weniger bewusst. Mein Wunsch wäre, dass Kinder mit Liebe und nicht mit Leistungsdruck erzogen werden. Erziehungsberechtigte sollten sich wieder mehr Zeit nehmen und versuchen zu verstehen, warum das Kind jetzt was macht. Kinder sind schließlich unsere Zukunft.

Claudine Krause hat lange Jahre als Lehrerin in Zehlendorf gearbeitet und wohnt in Wannsee. Sie hat eine Trilogie geschrieben „Jenseits des Wissens“, darin geht es um die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs.

Der Text erscheint auf Tagesspiegel-Zehlendorf, dem digitalen Stadtteilportal des Tagesspiegels. Folgen Sie der Redaktion auch auf Twitter.   

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