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Alkohol und Gewalt statt Liebe und Erfolg - es geht hart zu in Maxim Gorkis "Nachtasyl".

© Joanna Marie Meissner

Die Jugendtheatergruppe "Durchgedrehtes Drama": Nachtasyl in Zehlendorf

Die Zehlendorfer Jugendtheatergruppe "Durchgedrehtes Drama" feiert ihr zehnjähriges Jubiläum mit einer Inszenierung von Maxim Gorkis "Nachtasyl". Darin geht es um gescheiterte Personen, die kurz vor dem Aus stehen - wie einst auch das Theaterprojekt selbst.

Ein bisschen erinnert Maxim Gorkis Nachtasyl an Suzanne Collins Hungerspiele. Sowohl in Gorkis bekanntestem und erfolgreichstem Schauspiel „Nachtasyl“ als auch in Collins Bestsellerreihe „Die Tribute von Panem“ geht es um Personen, die leiden; um Personen, die die Hoffnung längst aufgegeben haben und nicht mehr an das Gute im Menschen glauben. Vor allem aber geht es um Personen, die sich dieses Leiden zu ihrer eigenen Belustigung ansehen, und für die das Elend der anderen nichts weiter als Entertainment ist.

„Wie bei „Big Brother“ oder dem „Dschungelcamp““, sagt Bardo Böhlefeld. Der 26-Jährige ist einer von vier Regisseuren, die das Theaterstück „Nachtasyl“ von Maxim Gorki mit der Zehlendorfer Jugendtheatergruppe „Durchgedrehtes Drama“ einstudiert haben. „Wir wollen die Zuschauer darauf aufmerksam machen, wie krank es ist, Spaß daran zu haben, andere leiden zu sehen“, erklärt Böhlefeld.

Die Prostituierte und der Baron. Die Bewohner im Nachtasyl haben alle ihre eigene prägende Vergangenheit.
Die Prostituierte und der Baron. Die Bewohner im Nachtasyl haben alle ihre eigene prägende Vergangenheit.

© Joanna Marie Meissner

Die Leidenden im Nachtasyl, einem Elendsquartier in einer russischen Provinzstadt, sind gescheiterte Existenzen, gefallene Persönlichkeiten, mittellose Asoziale, die sich nach einem besseren Leben sehnen: Die Schauspielerin, die früher mal erfolgreich war, aber irgendwann mit dem Trinken anfing; die Prostituierte, die sich durch Liebesromane in eine bessere Welt träumt; der Baron, der sie dafür verspottet und von seiner eigenen ruhmreichen Vergangenheit erzählt, die längst nicht mehr Wirklichkeit ist, und die Kranke im Rollstuhl, die ihr Mann fast zu Tode geprügelt hat.

Gemeinsam hat sich die Theatergruppe vor einem Jahr, als die Proben für das Stück anfingen, überlegt, wie man die Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit der einzelnen Charaktere den Zuschauern besser verständlich machen kann. „Es ging uns darum, den recht verstaubten Text greifbarer zu machen“, erklärt Böhlefeld.

Herausgekommen ist eine „ziemlich freie Interpretation“, in der Gorkis Stück Teil einer Show ist, die von Entertainern in Glitzeroutfits moderiert und kommentiert wird. Szenen aus dem Nachtasyl, in denen getrunken, gestritten und geschlagen wird und das Elend der Betroffenen fast greifbar in der Luft hängt, wechseln sich mit Szenen aus dem Fernsehstudio ab, in denen die Moderatoren in goldenen Glitzerkostümen einen roten Teppich entlang schreiten und versuchen, die Zuschauer vom Wahrheitsgehalt ihrer Show zu überzeugen. „Alles ist echt, nichts inszeniert. Die Kandidaten wissen nicht, dass sie beobachtet werden“, jauchzen die Moderatoren in ihre Mikrofone, eine stimmt „Atemlos ins Nachtasyl, hier ist wirklich nichts gespielt“ zu der Melodie von Helene Fischer an.

Die Bewohner des Nachtasyls werden schnell und gerne handgreiflich.
Die Bewohner des Nachtasyls werden schnell und gerne handgreiflich.

© Joanna Marie Meissner

Die Jugendlichen spielen ihre Rollen als Alkoholkranke, Arbeitslose, Drogensüchtige und Kleinkriminelle so authentisch, dass der Übergang zwischen Fernsehstudio und Nachtasyl unglaublich grotesk, fast schon pervers, wirkt. Im einen Moment würgt der Aufseher des Nachtasyls noch einen der Bewohner, während die Schwerkranke in ihrem Rollstuhl langsam stirbt; im nächsten Moment glänzt der rote Teppich schon wieder im Scheinwerferlicht. Die Moderatoren bedauern den Tod der Verstorbenen und bitten das Publikum um eine Schweigeminute. Nach zwanzig Sekunden klatschen sie in die Hände. „Gut, das reicht jetzt auch, man kann ja nicht immer nur ernst sein“, sagt eine von ihnen, kichert unbeholfen und verspricht den Zuschauern „weitere spannende Entwicklungen im Nachtasyl, starke Emotionen und echte Leidenschaft“. 

Jeder, der Lust und Zeit hat, kann bei der Theatergruppe mitmachen

Echte Leidenschaft ist auch der Grund für die insgesamt 35 Jugendlichen, sich jede Woche zwei Mal für vier Stunden im Haus der Jugend in Zehlendorf zu treffen, um gemeinsam Theater zu machen. Seit zehn Jahren gibt es das „Durchgedrehte Drama“, eine Theatergruppe von Jugendlichen für Jugendliche. Mitmachen kann jeder ab 14 Jahren, der Lust und Zeit hat, sich als Schauspieler, Regisseur, Musiker, Masken- oder Kostümbildner auszuprobieren. Jedes Jahr wird ein neues Stück, das die Regisseure gemeinsam vorher aussuchen, einstudiert und anschließend vorgeführt.

So viele wie noch nie sind die Jugendlichen vom "Durchgedrehten Drama" in diesem Jahr, nämlich 35.
So viele wie noch nie sind die Jugendlichen vom "Durchgedrehten Drama" in diesem Jahr, nämlich 35.

© Joanna Marie Meissner

„Es werden immer mehr Leute“ erzählt Jan-Lew Protsch, Leiter und Regisseur des diesjährigen Stücks. „Dieses Jahr mussten wir sogar noch Rollen dazuschreiben“. Der 28-Jährige ist seit zehn Jahren mit dabei und zählt damit zu einem der Gründer des „Durchgedrehten Drama“. Vor 2004 hatte es bereits eine Jugendtheatergruppe im Haus der Jugend gegeben, die von Bezirksgeldern finanziert worden war. Doch dann strich der Senat die Mittel und die Theatergruppe stand kurz vor dem Aus. „Für viele war das echt hart“, erinnert sich Protsch und erzählt, wie aus der Frustration der Jugendlichen und mit der Unterstützung des Haus der Jugend schließlich das „Durchgedrehte Drama“ entstand, das sich ausschließlich durch Spenden und Eintrittsgeldern finanziert.

Das erste Bühnenbild bestand aus Schrott aus dem Keller

„Das erste Bühnenbild haben wir noch aus Schrott aus dem Keller zusammengebaut“, erzählt Protsch. Das war 2004, es wurde „Die Kleinbürgerhochzeit“ von Bertolt Brecht gespielt. Seitdem hat sich das „Durchgedrehte Drama“ weiterentwickelt, an Zulauf gewonnen und erste Schauspielerinnen und Schauspieler hervorgebracht, die auch außerhalb des Haus der Jugend an großen deutschen Theatern und im Fernsehen auftreten.

Zum zehnjährigen Jubiläum hat sich die Gruppe um Protsch und Böhlefeld besonders viel Mühe gegeben. „Der technische Aufwand ist so groß wie nie zuvor. Es gibt im Stück Videosequenzen, die an kleinen Fernsehern gezeigt werden. Wir haben da echt Herzblut reingesteckt“, sagt Protsch. Genauso stolz wie Protsch wirken die anderen 35 Mitwirkenden auf ihr Stück, wenn sie von den stundenlangen Proben und Vorbereitungen auf ihre Rolle sprechen. Sie wissen, dass sie gut sind, die Schauspieler, Maskenbildner und Regisseure vom „Durchgedrehten Drama“ und nehmen sich selbst und ihre Aufgabe sehr ernst.

Vielleicht würde ein bisschen weniger Ernst der nächsten Inszenierung des „Durchgedrehten Drama“ nicht schaden; vielleicht liegt in dem Glauben an das eigene Können aber auch der Schlüssel zum Erfolg der Theatergruppe. Denn wie wusste schon Maxim Gorki? „Talent, das ist der Glaube an sich selbst, an die eigene Kraft.“

Das Theaterstück "Nachtasyl" wird am 27. 6., 28.6., 2.7., 4.7. und 5.7. jeweils um 20 Uhr im Haus der Jugend in der Argentinischen Allee 28 in Berlin-Zehlendorf aufgeführt. Karten können vorher unter 030/80909913 oder auf der Internetseite des "Durchgedrehten Drama" reserviert werden.

Die Autorin Nora Tschepe-Wiesinger ist freie Mitarbeiterin des Tagesspiegel und des Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin aus dem Südwesten. Sie studiert zurzeit in Hannover.
Die Autorin Nora Tschepe-Wiesinger ist freie Mitarbeiterin des Tagesspiegel und des Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin aus dem Südwesten. Sie studiert zurzeit in Hannover.

© privat

Die Autorin schreibt als freie Mitarbeiterin für den Tagesspiegel, sie ist in Zehlendorf aufgewachsen. Der Text erscheint auf dem Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin aus dem Südwesten.

Nora Tschepe-Wiesinger

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