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Mittlerweile kann er den Anblick auch genießen, sagt Mirko T., der sechs Monate lang am Schlachtensee gelebt hat. Er möchte nun nicht mehr frontal fotografiert werden, um seine Jobaussichten nicht zu gefährden

© Maike Raack

Ein halbes Jahr obdachlos am Schlachtensee: Vier Monate danach: Kleine Schritte auf dem langen Weg zurück

Ein halbes Jahr hat Mirko T. an den Ufern des Schlachtensees gelebt. Der Tagesspiegel Steglitz-Zehlendorf wollte wissen, wie es ihm bisher ergangen ist, und hat ihn noch einmal am Schlachtensee getroffen.

„Mein Schlafplatz ist abgeholzt.“ Das ist das erste, was Mirko T. sagt. Er sitzt am Ufer des Schlachtensees auf einer Bank, blickt auf den See. Radfahrer und Spaziergänger ziehen vorbei. „Das ganze Unterholz haben sie weggemacht“, sagt er ruhig. „Aber das stört mich momentan nicht. Mittlerweile kann ich den Anblick auch genießen. Solange der Druck weg ist.“

Vor vier Monaten hatte der Tagesspiegel Steglitz-Zehlendorf den „Mann aus dem Wald“ getroffen. Damals waren die sechs Monate „Hardcore-Sabbatical“, wie er selbst es nannte, erst wenige Tage vorbei; seither wohnt er in einem Hotel in Wilmersdorf, vom Jobcenter finanziert.

Bei diesem zweiten Treffen am Schlachtensee sieht Mirko T. schon einmal bedeutend wohliger aus: Die Wangen weniger hohl, der Teint leicht gebräunt. Er trägt eine Schlägermütze und eine cremefarbene Bikerjacke aus Kunstleder. „Alles vom Discounter“, sagt er und lächelt. Überhaupt wirkt er auch an diesem Tag sehr entspannt.

Der Schnee ist weg, die Bäume tragen wieder grün und die ersten Besucher des Sees baden bereits. Das halbe Jahr hier draußen am See erscheint weit weg. Und trotzdem: „So lange der Druck weg ist“, hat Mirko T. gesagt. Als rechne er damit, dass ihn der Druck jeden Moment wieder in die Zange nimmt.

Der Schlafsack liegt noch immer am Schlachtensee - für Nachnutzer, sagt Mirko T.
Der Schlafsack liegt noch immer am Schlachtensee - für Nachnutzer, sagt Mirko T.

© Maike Raack

Ein Außenstehender kann kaum erahnen, was er hier am See durchgemacht hat. Das stundenlange Laufen, um Flaschen zu sammeln und warm zu werden. Die Angst, dass jemand den Schlafsack und die kargen Vorräte klaut. Der tägliche Kampf um die paar Euro, um satt zu werden. Das Frieren Tag und Nacht, als schließlich die Kälte nahe null Grad rückt.

Mirko T. war ganz unten. Und sehr viel weiter „oben“ ist er immer noch nicht. Ein bisschen steht er sich dabei auch selbst im Weg, das gibt er offen zu. Immerhin hatte er bereits neun Vorstellungsgespräche, und immer läuft es dabei gut. Bis zu dem Punkt, an dem die Wahrheit aus ihm heraus bricht. Die Wahrheit über sein Leben in den letzten sechs Monaten des Jahres 2015.

Noch immer liegt sein Schlafsack in der Nähe der Badewiese am S-Bahnhof Schlachtensee. Ein paar Meter ist er den Hang hinuntergekullert. „Der war durch“, hat er damals gesagt. Warum er ihn nicht entsorgt hat? Soll der alte Schlafsack vielleicht doch ein Anker sein an seinem See? Für den Fall der Fälle? „Den habe ich liegen gelassen für jemand anderen, der ihn vielleicht jetzt brauchen kann“, sagt Mirko T. nüchtern. „Es geht mir wirklich gut. Ich kann zur Ruhe kommen“.

Vor vier Monaten ging es hier zu Mirko T.s Schlafplatz "Station I", wo jetzt noch sein zusammengerollter Schlafsack liegt
Vor vier Monaten ging es hier zu Mirko T.s Schlafplatz "Station I", wo jetzt noch sein zusammengerollter Schlafsack liegt

© Maike Raack

Seine Tage verlaufen relativ entspannt, er läuft viel, am Wochenende gerne auch mal vom Heidelberger Platz bis zum Flohmarkt an der Straße des 17. Juni. Er lässt sich nun etwas mehr treiben, ist nicht mehr selbst der Getriebene. Und doch sagt er: „Es gab Zeiten, die habe ich am See mehr genossen als jetzt. Da konnte ich auf einer Bank sitzen und einfach auf den See gucken, konnte meine Gedanken hängen lassen. Das hatte was Meditatives. Jetzt denke ich viel an die Zukunft, muss einen Job und eine Wohnung suchen.“ 

Dabei sei gerade die Wohnungssuche extrem schwierig, auch beim sozialen Wohnungsbau. Und werde wohl noch schwieriger. Aber er verlässt sich nicht auf die Ämter, „da muss man selber kucken“.

Sich auf sich selbst zu verlassen, das hat er in den letzten Monaten ja gelernt. Eine weitere Lektion darin erteilt ihm das Arbeitsamt, wenn auch unabsichtlich: Ganz am Anfang seiner Zeit im Hotel muss er drei Tage ohne Geld überbrücken. Das Arbeitsamt hatte eine alte Kontonummer von ihm und muss nun das bereits überwiesene Geld auf das aktuelle Konto zurückbuchen.

Für den ersten Tag hat er noch ein Viertel Brot. Dann heißt es Nulldiät. Er versucht in diesen Tagen, viel zu schlafen, trinkt viel Wasser, lenkt sich mit Lektüre ab. Er überlegt, wieder Leergut zu sammeln, aber er kennt sich anfangs in der Nähe des Hotels nicht gut aus und möchte auch nicht um 3 Uhr morgens im Hotel aufbrechen, um an den S-Bahnhöfen in der Nähe Flaschen zu sammeln. „Die sind ja Kamera überwacht, das wäre mir peinlich gewesen. Und zu Frau Mette in die Suppenküche konnte ich auch nicht, weil das dummerweise ein Wochenende war.“

Er gehe relativ kleine Schritte im Moment, auf dem Weg zurück ins normale Leben, sagt Mirko T. Dies war der Blick von seinem Schlafplatz "Station II"
Er gehe relativ kleine Schritte im Moment, auf dem Weg zurück ins normale Leben, sagt Mirko T. Dies war der Blick von seinem Schlafplatz "Station II"

© Maike Raack

Doch mittlerweile laufen die Überweisungen auf das richtige Konto ein; für seine Verpflegung hat er im Moment 13,50 Euro am Tag. Davon hat er sich zehn Euro als Limit gesetzt, den Rest legt er zur Seite für Ausgaben: Kleidung, vielleicht mal einen Anzug für die Vorstellungsgespräche, sein Telefon.

Bis Mitte Juni kann er im Hotel bleiben. Für die Zeit danach bekommt er eventuell eine Wohnung eines Bekannten. Aber das sei noch nicht sicher; da müsse noch viel saniert werden. Ein gebrauchtes Fahrrad hat er sich zugelegt, mit dem kann er sich noch freier in der Stadt bewegen, außerdem hat er einem der Hotelangestellten einen kleinen Tablet abgekauft. „Um meinen Account beim Arbeitsamt bearbeiten zu können.“ Weil aber keine Vorschläge vom Arbeitsamt kommen, sucht er sich alles selbst. Acht Bewerbungen in zwei Monaten muss er verschicken, so die Vorgabe. Zeugnisse und seinen Lebenslauf mit Foto hatte er die ganze Zeit über am See mit dabei, auf einem USB-Stick.

Am Ende kommt immer die Columbo-Methode

Mirko T., war jahrelang Bewerbungscoach und hat als Ausbilder bei der Bundeswehr gearbeitet, hat auch in Afghanistan und im Kosovo gedient; nun würde er gerne zurückkehren zum Bund. Aber für einen Job im Personalbereich bräuchte er ein abgeschlossenes Studium. Dabei gäbe es so viele Coaches, die keine Ahnung von Konfliktsituation haben.

Wie viele Bewerbungen er inzwischen verschickt hat? Da muss er schätzen. Um die vierzig werden es gewesen sein. Auf jeden Fall so viele, dass er neun Mal eingeladen wurde.

Die Vorstellungsgespräche laufen eigentlich immer gut, erst am Ende, wenn Mirko an dem Punkt anlangt, seine Vergangenheit beichten zu müssen, kommt die Wende. Dann kommt die Columbo-Methode, scherzt er. Er deutet einen militärischen Gruß an, legt lässig einen Finger an der Mütze und sagt: „Einen habe ich noch.“ Die Chancen, einen Job zu bekommen, seien doch größer, wenn man ehrlich ist und die Leute von sich überzeugt, sagt er. Trotz eines ungewöhnlichen Lebenslaufs. „Nichts zu sagen wäre für mich eine Art Lüge. Irgendwann kommt es eh raus.“ Und so erzählt er den Personalern, obwohl sie nicht danach fragen, von dem Bruch in seinem Leben. „Dann sehe ich schon den Ausdruck in ihren Gesichtern. Ich war ja lange genug in der Branche, um zu wissen, wie die wirklich reagieren. Auch wenn sie ein Pokerface aufsetzen. Das sind eben Krawattenträger, die schockt das. Ich war ja selbst einer.“ Und dann komme eben wieder der Schrieb, dass man sich für jemand anderen entschieden habe. Aber mit vielleicht Mitte Zwanzig habe niemand die Erfahrung, auch mit Menschen umzugehen, die einen etwas anderen Lebensweg haben.

"Es wird weiter gehen"

Inzwischen hat er auch alte oberflächliche Kontakte wieder aufgenommen. Er verschickt ab und an mal eine Nachricht über Whatsapp an die Nummern, die er auf einem Zettel die ganze Zeit in seinem Portemonnaie hatte. Was er aber bei den Vorstellungsgesprächen ungefragt erzählt, verschweigt er seinen Bekannten: Wenn er sich mit jemandem auf einen Kaffee trifft, erfährt derjenige nicht, was er in der letzten Zeit erlebt hat. Er will sich erst nach und nach vortasten, wie es bei den anderen so läuft.

„Das sind relativ kleine Schritte, die ich jetzt gehe. Aber es wird auch weiter gehen.“ Er sei nicht dazu veranlagt, den Kopf sofort in den Sand zu stecken. Das halbe Jahr draußen habe ihn stark gemacht. „Ich habe gelernt, mit minimalsten Mitteln zu überleben. Ich habe eine gewisse Gewöhnungsphase gebraucht und dann habe ich gemerkt: es geht auch so. Das härtet ab.“ Außerdem sei er total flexibel, da würde er schon was finden. Er würde ja auch nach Leipzig oder Halle oder nach Westdeutschland gehen.

In der nächsten Woche hat er wieder zwei Einladungen bei Personalberatungsfirmen. Da wolle er vielleicht mal sein Sabbatical am Schlachtensee verschweigen.

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