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Der Autor, Christian Petzold, ist Jahrgang 1965 und lebt mit seiner Familie in Zehlendorf.

© privat

Kollektive Demenzangst an einem Beispiel aus Zehlendorf: Über die Krankheit reden Politiker nur in Prosa!

Heute sind in Deutschland schon weit mehr als 1,2 Millionen Menschen demenziell erkrankt. In Zehlendorf wurde unser Autor und Demenzexperte durch eine Begebenheit animiert, seine Haltung zum Thema für den Blog aufzuschreiben

Vor einigen Tagen, es war einer der ersten kühleren Morgen, konnte ich beobachten, wie auf der Höhe Schützallee/Ecke Clayallee eine ältere Dame im Nachthemd umherlief. Sie wirkte verunsichert und suchend, wehklagte unverständliche Worte, da zugleich erheblicher Baulärm von den Straßenarbeiten ihr Rufen übertönte. Andere Passanten liefen zügig weiter zur nahe gelegenen Bushaltestelle oder waren mit ihren Mobilgeräten beschäftigt.

"Wenn ich Demenz bekomme, bringe ich mich um"

Runter gucken und abtauchen. Offensichtlich  war die Frau orientierungslos, wenn nicht gar haltlos. Vielleicht demenziell verändert? Bevor ich mich der Frau zuwenden konnte, hielt ein Streifenwagen der Polizei. Zwei Beamte umringten die Frau. Meine Eile zum Geschehen half nicht. Die Frau wurde in den Streifenwagen geführt. Nicht nur nach dieser Begebenheit stellte ich mir die Frage, wie wir, und das nicht nur in Berlin-Zehlendorf, mit Menschen umgehen, die möglicherweise sich in einer zunehmend verrückenden Realität befinden. Unbestritten ist, dass das Thema Demenz immer mehr in unserer Gesellschaft ankommt. Die Zahl der Menschen mit einer Demenz nimmt bei uns zu - auch weil die Zahl der alten Menschen wächst. Heute sind in Deutschland schon weit mehr als 1,2 Millionen Menschen demenziell erkrankt. Viele, insbesondere prominente Beispiele in der Öffentlichkeit haben auf sehr unterschiedliche Weise dazu beigetragen, dass sich mehr Menschen für das Thema Demenz interessieren.

"Wenn ich Demenz bekomme, bringe ich mich um." Immer wieder höre ich solche Aussagen. In einer Klarheit, die aufhorchen, ja erschrecken lässt. Die Menschen haben Angst. Vor was? Vor sich? Vor der Krankheit oder vor der Umgebung? Gibt es gar eine kollektive Demenzangst, weil wir die Kontrolle aufgeben müssen über all das, was wir zu kontrollieren haben, unseren Alltag, unsere Körperlichkeit, unsere Gedanken? Und das in einer Gesellschaft, die Krankheit nur als kurzfristige Störung des "Gesamtsystems Mensch" betrachtet und sich mit dauerndem Kontrollverlust wie auch Verlust von geistigen Fähigkeiten, nur sehr schwertut.

Alzheimer ist die häufigste Form von Demenz. Auch in Deutschland sagen Experten einen starken Anstieg der Patienten voraus
Alzheimer ist die häufigste Form von Demenz. Auch in Deutschland sagen Experten einen starken Anstieg der Patienten voraus

© dpa/Bildfunk

Welche gesellschaftlichen Antworten lassen sich, hier am Beispiel Demenz, finden? Nationale Strategien? Bei den zahlreichen so facettenreichen politischen Ankündigungen, gerade jetzt vor den anstehenden Wahlen. So kriechen sie wieder unter den weiten Mantel des normtextlich offen strukturierten Sozialstaatsgebots. Das bietet Raum für viele gute Vorsätze. Betrachtet man die Landesebene in Deutschland, gibt es zwei Verfassungsurkunden, die das Alter und das Altern als gesellschaftliches Thema aufgegriffen haben. Das schafft aber noch nicht so richtig Abhilfe. Zwar sind Verfassungstexte spezifische literarische Vergewisserungen über das für das Gemeinwesen Wichtige. Doch programmatische Formulierungen wie "Das Land bekennt sich zur Verpflichtung der Gemeinschaft, alte und behinderte Menschen zu unterstützen und auf die Gleichwertigkeit ihrer Lebensbedingungen hinzuwirken" (Art. 7 II Sächs.Verf.) wecken doch eher Skepsis.

Der Verdacht liegt nahe, dass sie nur weihevoller Ausdruck symbolischer Politik sind, mehr oder weniger folgenloses Bekenntnis zu einer diffusen Gemeinwohlverantwortung ohne konkrete Handlungsanleitung. In Berlin findet sich dazu wenig. Schaut man sich zudem die Programme der tapferen Kandidaten zur Bundestagswahl an, entdeckt man viel Prosa und kaum Konkretes. Keiner der Politiker stellt erkennbare Grundfragen, auch hier im Bezirk nicht. Fragen wie beispielsweise: Wie kann unsere Quartier, unser Stadtbezirk für Menschen mit demenziellen Erkrankungen "barrierefrei" werden?

Das heißt: Wie kommt man dahin, dass Erkrankte sich in Supermärkte, Restaurants, Kinos, Sportvereine trauen und dort gut behandelt werden? Bei allem wird es auch um die Frage gehen, ob die Betroffenen als Aktive einbezogen werden können – wo das nicht möglich ist, wird es darum gehen, den Betroffenen im kommunalen Raum eine Stimme zu geben. Wo sind sie? Wo sind die ernstzunehmenden politischen Stimmen? Was können wir aber auch konkret in unserer Nachbarschaft tun?

Es ist offensichtlich, dass sich hier das Thema nur anreißen lässt. Vielleicht wird dazu folgend gebloggt. Vielleicht begründen sich weitere sinnstiftende Netzwerke. Der (fachliche) Blick ist aber häufig auf die Demenz und die Menschen mit Demenz gerichtet. Er müsste zumindest im gleichen Maße auf die Gesellschaft und ihre Entwicklung gerichtet sein. Der Morgen der älteren Dame wäre anders verlaufen. Sicher!

Der Autor ist Experte auf dem Gebiet Demenz, Pflege und Alternde Gesellschaft. Er lebt mit seiner Familie in Zehlendorf. Der Text erscheint auf dem Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin des Tagesspiegels.

Christian Petzold

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