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Mehrere Stränge der Wucherranke hängen schon anderthalb Meter über dem Boden, andere umrahmen das Schild dieses Kosmetiksalons

© Raack

Nikolassee in Berlin: Ein Bahnhof verrottet - und niemand fühlt sich zuständig

Die märchenhafte Geschichte vom S-Bahnhof Nikolassee, in dem sich Schlingpflanzen ihren Raum erobern und sich offenbar ein verworrener Dschungel der Nichtzuständigkeiten breit macht.

Die Spinnweben sind bestimmt Jahrzehnte alt: Die zusammengerollten Weben bilden ein eigenwilliges Muster an dem hohen Deckengewölbe. Durch ein geöffnetes Fenster in fünf Metern Höhe winden sich grüne, beinahe tropenhafte Tentakeln in Richtung Passanten herab. Bis auf anderthalb Meter schlängelt sich der Knöterich über einem Kosmetikstudio in die Bahnhofsvorhalle, die vertrockneten Spitzen schmiegen sich, als wären sie von Hand drapiert, an das Schild des Studios. Ein paar Schritte weiter führt eine Treppe Richtung Bahnsteig hinab: Mehrere Stränge wuchern hier durch ein geschlossenes Dachfenster aus Glas.

Das Gebäude hat etwas Dornröschenhaftes

Der S-Bahnhof Nikolassee mit seinem Uhrenturm und den weiten und schmalen Rundbogenfenstern hat schon architektonisch betrachtet märchenhafte Züge. Die Schlingpflanzen, die sich außen an der linken Gebäudeflanke wie eine grüne Geschwulst ans Mauerwerk klammern, verleihen dem 1902 erbauten Gebäude etwas Dornröschenhaftes.

Was anderes als nahezu hundertjähriger Schlaf oder Untätigkeit konnte das Gebäude derart verkommen lassen? Von innen betrachtet kann einem durchaus auch Rapunzel und ihr herabgelassener Zopf in den Sinn kommen. In der Realität hasten hier jeden Tag viele Menschen durch die Bahnhofshalle zur S-Bahn oder drängen nach draußen.

„Ich finde den Zustand hier nicht schlimmer als an anderen Bahnhöfen“, sagt eine ältere Dame, die gerade den S-Bahnhof betreten will. „Das hat doch was Romantisches. Wenn Sie sich im Vergleich dazu mal das tote Gleis am S-Bahnhof Zehlendorf ansehen!“

Die ältere Dame ist offenbar eine aufmerksame S-Bahnfahrerin. Die Ranken im S-Bahnhof Nikolassee seien ihr allerdings noch nicht aufgefallen. Dabei komme sie hier oft vorbei. Und als sie nun genauer hinsieht, schnappt sie dann doch nach Luft: „Also das darf doch gar nicht wahr sein“, ruft sie und zeigt auf die herabhängenden „Lianen“ über der Treppe. „Ob das dem Mauerwerk gut tut?“ fragt sich ein anderer Passant, findet aber, dass die Ranken von außen schön aussehen.

Greifbar sind schon die Schlingen des Knöterichs

Der im S-Bahnhof ansässige Gemüsehändler sagt: „Eigentlich sieht das nicht gut aus.“ Er hat seit 30 Jahren hier seinen Stand – und seit genau 30 Jahren sei hier nichts gemacht worden. „Das war hier noch nie so ungepflegt.“ Er erzählt, dass die Bahn das Gebäude damals an die Deutsche Wohnen AG verkauft habe, diese dann an die Spector Grundbesitz GmbH. Doch auch die seien nun nicht mehr zuständig. Ungefähr seit dem letzten Frühling soll er die Miete für den Laden monatlich an die Cronbank überweisen. „Wir haben ein Formular bekommen als dritte Schuldner.“ Kontakt gebe es keinen, falls er eine Frage habe oder ein Problem.

Das sei ja ein Unding, dass „die Bahn ihr Eigentum verscherbelt“, meldet sich wieder die ältere Passantin. Sie war beim Gemüsehändler stehen geblieben, schließlich kennt sie ihn seit Jahren, und es interessiert sie offenbar sehr, was mit dem Bahnhofsgebäude passiert. „Wenn die Bahn ihr Eigentum verkauft, hat sie doch keinen Einfluss mehr darauf, dass die Fahrgäste sicher auf den Bahnsteig kommen. Was, wenn hier aus der Treppe ein Stein 'rausbricht? Also, wenn Privatisierung so aussieht, dann bin ich nicht dafür!“

Apropos Treppe, der Gemüsehändler zeigt die Stelle, ab der der Bahnhof noch Eigentum der Bahn ist: Ab der obersten Stufe, wo es hinab in Richtung S-Bahnsteig geht, ist die Bahn verantwortlich. Und direkt über den ersten Stufen ranken sich meterlang und bereits auch hier greifbar die Schlingen des Knöterich durch das geschlossene, aber offenbar undichte Glasdach.

Kosmetikladen mit Wasserschaden

Konkret ist bereits der Schaden am Gebäude. Gerade schließt Dagmar Krampe den Kosmetiksalon auf. Seit acht Jahren hat sie ihr Studio hier in der Bahnhofsvorhalle. Sie ist froh, dass jetzt mal jemand nachfragt. „In meiner Kosmetikkabine habe ich einen permanenten Wasserschaden: Das Wasser läuft die Wände runter. Hier ist seit Jahren rein gar nichts getan worden.“ Sie zeigt den Schaden, den sie mit weißem Mörtel in der gelb gestrichenen Wand zugespachtelt hat und verschämt hinter einem Vorhang vor den Kundinnen versteckt. Daher möchte sie auch nicht, dass dieser Schandfleck fotografiert wird.

Regnet es, dann tropft es von der Decke

Zum Vermieter habe sie im Moment keinen Kontakt. Wenn etwas passieren sollte, würde sie den Notdienst anrufen und den Betrag von der Miete abziehen. Die überweise sie auch an die Cronbank. Gereinigt werde in der Vorhalle übrigens auch nicht – nur ab der Treppe, da sei ja die Bahn zuständig. Und dann zeigt sie uns noch die Leuchtröhre über dem Bahnhofsportal. „Bei Regen oder wenn es taut, tropft hier das Wasser runter.“ Direkt über der Lampe, unter der jeden Tag Hunderte Passanten zu den Zügen hetzen, klafft ein Loch in der Decke, so groß wie ein Kinderkopf.

Die Bahnhofsuhr in der Vorhalle zeigt unverdrossen 8.48 Uhr, 24 Stunden am Tag
Die Bahnhofsuhr in der Vorhalle zeigt unverdrossen 8.48 Uhr, 24 Stunden am Tag

© Raack

Bei der Recherche nach den Hintergründen wird schnell klar: Märchenhaft ist nicht nur das verwunschen wirkende Gebäude des Bahnhof Nikolassee – unwirklich erscheint auch der Zuständigkeitsdschungel im Hintergrund in seiner undurchschaubaren Verworrenheit.

Die Deutsche Bahn ruft auf Anfrage Anfang Oktober zunächst sofort zurück. Der Herr von der Presseabteilung erklärt: Um die Verwaltung des S-Bahnhofs Nikolassee kümmere sich seit Längerem die Firma Immo Teschke. Seinen Namen möchte er nicht nennen, aber, so fügt er hinzu, durch seinen Hinweis erspare er „bestimmt einige Recherchearbeit“.

"Das ist nun mal so in Berlin!"

Eine Mitarbeiterin bei Immo Teschke sagt, ihr Unternehmen habe diese Immobilie vor etwa einem Jahr abgegeben. Wie lange sie sich um das Gebäude gekümmert habe und warum dann plötzlich nicht mehr, möchte sie nicht sagen. Verantwortlich sei jetzt auf jeden Fall die Spector Grundbesitz GmbH. Bei Spector heißt den Anrufer eine elektronische Ansage „herzlich willkommen bei Saint Real, wir sind gleich für Sie da“. Dann nimmt eine Frau ab: Die Spector GmbH gebe es hier nicht mehr. Die hätten hier ihren Sitz gehabt, das sei richtig, und sie seien auch noch zuständig für das S-Bahngebäude. Ob sie einen Kontakt zu Spector habe? „Gehören tut’s denen noch, aber hier in diesen Räumlichkeiten sind sie nicht mehr“, weicht die Dame aus. Nur so viel: Das sei „nicht gut auseinander gegangen“. Und dass das Gebäude so verkommt, „das ist nun mal so in Berlin“, erklärt sie. Das sei kein Einzelfall. Sie von Saint Real seien jedenfalls nicht zuständig.

Unter einer anderen Eintragung der Spector GmbH gibt es eine weitere Nummer. Hier springt schon vor dem ersten Läuten der Anrufbeantworter an, „Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Tonsignal“ – keine Angabe, wo der Anrufer gelandet ist. Der dort hinterlassenen Bitte um Rückruf kommt niemand nach. 

Bei einem erneuten Anruf bei der Bahn Ende Oktober sagt man in der Presseabteilung, die Bahn habe auf den Bahnhöfen eine Verkehrssicherungspflicht, auch im Fall des S-Bahnhofs Nikolassee. Unsere Fragen möchten wir doch aber bitte nochmal per Mail an die Presseabteilung richten. Die Antwort lässt über eine Woche auf sich warten und erfolgt nur auf nochmalige telefonische Nachfrage. „Unsere S-Bahnhöfe werden regelmäßig im Rahmen der Verkehrssicherungspflicht überprüft“, heißt es in der Antwort der Deutschen Bahn. Durch Brandschutzbegehungen sowie Wartungs- und Instandhaltungskontrollen würden die technischen und baulichen Anlagen regelmäßig auf Funktionsfähigkeit überprüft und Abweichungen umgehend behoben. Außerdem sei das gesamte Erdgeschoss des Bahnhofs Nikolassee 2013/14 denkmalgerecht hergerichtet und an einen privaten Eigentümer verkauft worden.

Heute dornröschenhaft überwuchert. Ursprünglich verhalf der Doppelbahnhof in Nikolassee (erbaut 1902) der Villenkolonie Nikolassee (südlich und südwestlich der Spanischen Allee gelegen) zu einem schnellen Aufschwung - daran erinnert eine Stele gegenüber des Bahnhofsgebäudes
Heute dornröschenhaft überwuchert. Ursprünglich verhalf der Doppelbahnhof in Nikolassee (erbaut 1902) der Villenkolonie Nikolassee (südlich und südwestlich der Spanischen Allee gelegen) zu einem schnellen Aufschwung - daran erinnert eine Stele gegenüber des Bahnhofsgebäudes

© Raack

Jörg Rüter von der unteren Denkmalschutzbehörde im Rathaus Zehlendorf erinnert sich noch genau, dass er mit dem neuen Eigentümer vor zwei Jahren vor Ort war und über bauliche Erhaltungsmaßnahmen gesprochen hat.
„Aber diese Maßnahmen waren rein informell. Da ist nichts konkret in die Wege geleitet worden“, sagt er. Wenn sich nun vor Ort deutliche Spuren des Verfalls feststellen ließen, dann würde er das Thema auf seine Agenda setzen. Warum der S-Bahnhof so oft den Eigentümer und die Verwaltung gewechselt habe, liege daran, dass die Bahnhofsgebäude wenig Rendite abwerfen würden. „Die Bahnhöfe haben ja nur eine Verteilerfunktion für die Deutsche Bahn, die Vermietungsfunktion ist da schon begrenzt.“ Daher habe die Bahn ihre Gebäude sukzessive verkauft. Und spare sich auf diese Weise die Unterhaltungs- und Verkehrssicherungsmaßnahmen.

Die Autorin schreibt für den Tagesspiegel und für Tagesspiegel Zehlendorf, das digitale Stadtteil- und Debattenportal aus dem Berliner Südwesten, auf dem dieser Text erscheint. Folgen Sie Maike Edda Raack auch auf Twitter. Dort finden Sie auch die Redaktion Zehlendorf.

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