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Die Autorin Stefanie Engel ist 21 Jahre und hat gerade ihr Abitur gemacht.

© Thilo Rückeis

Schule in Zehlendorf geschafft - und was jetzt?: Vom Abitur und dem Sturm, den man Leben nennt

Das Abitur ist endlich geschafft, aber das echte Freiheitsgefühl stellt sich irgendwie nicht ein. Unsere Autorin hat für den Zehlendorf Blog aufgeschrieben, warum sie ihr Gefühl der Sicherheit verloren hat. Zunächst einmal.

Es gibt kein Wort, das jenes Gefühl zu beschreiben vermag. Das Gefühl, wenn man durch das Schultor schreitet, ein allerletztes Mal, wenn es nach all den Jahren plötzlich vorbei ist.

Es ist ein Gefühl der Angst und der Hilflosigkeit. Die Ergebnisse stehen fest, man kann nichts mehr tun. Nur noch warten. Warten, während Fragen über Fragen durch den Kopf kreisen, sich überschlagen und schließlich zu einem Strom aus Ungewissheit, Spannung und Hoffnung werden - was geschieht jetzt, wie geht es weiter? Hat sich all die Arbeit, all die Entbehrung der letzten Monate ausgezahlt? Kann man das Ende jenes Weges, auf den man immerhin mehr als die Hälfte seines Lebens hingearbeitet hat, mit Stolz und Anerkennung für sich selbst abschließen, vielleicht sogar einem kleinen Triumph?

Augen zu, tief durchatmen

Als ich das Foyer erreiche, läuft mir ein Mädchen entgegen: Ich kenne sie, wenn auch nur flüchtig, habe ich doch in der Vergangenheit nur wenige Worte mit ihr gewechselt. Sie ist in Tränen aufgelöst, als sie davon läuft, raus aus der Schule, das Handy in der Hand. Freundinnen eilen hinter ihr her, selbst einige Lehrer. Sie hat es nicht geschafft.

Es ist ein schöner Tag, wolkig, doch mit etwas Sonne. Der erste schöne Tag nach einer regenreichen Woche. Doch wir können diese Schönheit nicht genießen. Es ist Montag, der 3. Juni 2013 - der Tag, an dem wir die Ergebnisse unseres Abiturs erhalten, der Tag, an dem eine neue Freiheit, der Abschnitt in ein neues Leben beginnt. Und noch nie zuvor hatten wir so viel Angst.

Wir alle versammeln uns vor dem Zeichensaal. Als die Tür geöffnet wird strömen die Massen an Schülern eilig herein, sodass bald alle Plätze belegt sind. Ich setze mich auf den Boden, lehne mich gegen die Wand. Augen zu, tief durchatmen. Und vor allem: Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren, ist das Fieber auch förmlich in allen Gliedern zu spüren.

Abitur, und dann? Überfüllter Hörsaal!
Abitur, und dann? Überfüllter Hörsaal!

© dpa/Bildfunk

Dann geht es los. Unsere Schulleiterin hält eine kurze Rede, anschließend folgt der Aufruf jedes Einzelnen. Applaus erhebt sich, ein kurzer Händedruck, dann berührt die Hand den Zettel, der für uns in diesem Augenblick die Welt bedeutet – in Form einer Zahl.

Mein Name fällt, ich fahre hoch. Und das Herz bleibt mir stehen, als der Blick nach unten gleitet - bestanden! Doch ich fühle nichts.

Erst, als nach und nach jede meiner Freundinnen aufgerufen wird und die Ergebnisse der Prüfungen mit dem daraus errechneten Abischnitt erhält, begreife ich langsam, was eigentlich geschieht. Wie mir geschieht. Es ist geschafft. Das Abitur, dieser große, scheinbar endlos aufragende Berg, er ist erklommen. Ich stehe auf dem Gipfel, wir alle, die es geschafft haben, der eine mehr zufrieden, die andere weniger.

Doch auf dem Weg nach draußen begegnen mir auch immer wieder Mitschüler, die trotz guter Abinote, vor der immerhin eine 1 steht, den Tränen nahe sind. Manchmal fehlen ihnen nur wenige Punkte. Wenige Punkte, die jedoch darüber entscheiden, ob sie eine realistische Chance darauf haben, das studieren zu können, was ihnen am Herzen liegt.

Durch die Verkürzung der Regelschulzeit von 13 auf 12 Jahre, steigende NC's und einen immer größeren Ansturm auf die Universitäten – insbesondere in Berlin – ist die Aufnahme in ein Studienfach seiner Wahl keines Wegs mehr so einfach, wie es vor Jahren einmal war. Ich behaupte nicht, dass es damals grundsätzlich einfach war. Doch durch die immer höher gesetzten Anforderungen und den damit verbundenen Konkurrenzkampf wiegt der Druck auf den Schultern der Studenten schwerer als je zuvor.

Einzige Chance: Losverfahren

Ein Beispiel: Eine Klassenkameradin meiner Mutter, die ihr Abitur mit einer gut durchschnittlichen Note abgeschlossen hatte, nahm im Anschluss ein – ohne Wartesemester verbundenes – Psychologiestudium auf. Das in heutiger Zeit zu schaffen, grenzt an ein Wunder. Die einzige Chance: Losverfahren.

Aber kann man sich auf so ein Glück verlassen?

Und selbst wenn: Wie lange sollte man auf dieses Glück warten? Was in dieser Zeit tun? Arbeiten, ok. Trotzdem fühlt es sich immer so an, als hinge man in der Luft. Und dann ist da noch ein anderes, gravierendes Problem.

Nämlich die Frage nach der Wahl des Studienganges. Ich, die sich für Geisteswissenschaften interessiert, muss mir im Klaren darüber sein, dass ich in einer Zeit der Schnelllebigkeit und der stetig (weiter)wachsenden wirtschaftlichen Interessen eher geringe Aussichten auf einen Job habe. Aber ich fühle mich nicht nur berufen für einen geisteswissenschaftlichen Studiengang, hier liegen, denke ich, auch meine Stärken. Aber ständig sind da diese Fragen in meinem Kopf: Wer braucht heute einen Germanisten, einen Kunstsoziologen oder Historiker?

Unsere Autorin zieht es zu den Geisteswissenschaften. Lesen wird sie da allemal müssen, vielleicht auch hier in der Staatsbibliothek Unter den Linden.
Unsere Autorin zieht es zu den Geisteswissenschaften. Lesen wird sie da allemal müssen, vielleicht auch hier in der Staatsbibliothek Unter den Linden.

© Mike Wolff

Und selbst wenn der Studiengang einer Fachrichtung gewählt ist, die hohe Aufstiegschancen und Sicherheit verspricht - wer sagt mir, dass das in zehn Jahren auch noch der Fall ist? Wo ist die Garantie? Was ist mit den Menschen, die zwar kein Abi haben, aber dennoch hoch qualifiziert sind? Was wird aus ihnen, wo bleiben sie, wenn für immer mehr Berufe ein Hochschulabschluss gefordert wird?

Ich sitze jetzt also hier und frage mich: Was tun? Wie, was, wohin?

Es hinnehmen, etwas "Anständiges" lernen, das gebraucht wird, vielleicht nicht von mir, aber von dem System? Diesem großen globalen Wettbewerb, in dem es immer nur darum zu gehen scheint, möglichst erfolgreicher als alle anderen zu sein, im Notfall auch mal den Ellenbogen auszufahren, frei nach dem Motto: "Schneller, höher, stärker?" Soll das die Lösung sein?

Jetzt spüre ich die Sicherheit nicht mehr

Ich bezweifle das. Aber ich gebe auch zu, dass ich nicht weiß, was ich allein dagegen tun, dagegen stemmen könnte. Ich merke also schnell, dass jetzt, da das Abi vorbei ist, nicht die ersehnte Ruhe eintritt, die man sich versprach. Im Gegenteil. Für mich, so fühlt es sich an, ist es die Ruhe vor dem großen Sturm. Den Sturm, den man Leben nennt.

Während man in der Schulzeit seine festen Abläufe hatte, derer man sich des ein oder anderen Tages störte, war man dennoch an einem Ort, der Beständigkeit vermittelte. Er glich einer eigenen kleinen Welt, die vielleicht nicht immer schön und einfach war, aber sie war da, sie war nicht nur ein zementiertes Gebäude, sondern auch ein Sinnbild für Sicherheit. Das weiß ich jetzt, denn jetzt spüre ich diese Sicherheit nicht mehr. Ich muss sie mir neu erarbeiten, diese Sicherheit, auf der ich dann die Bausteine für den Weg meines weiteren Leben setze. Und dennoch ist da die Gewissheit darüber, dass das alleine nicht ausreichen wird. Es gehört immer mehr dazu. Willkommen im Leben.

Wenn man mich jetzt also fragt:

"Wohin des Weges, junge Frau?"

dann antworte ich:

"Geradeaus, meinen Weg entlang."

"Das heißt?"

"Studentin sein. Und zwar einer Geisteswissenschaft. Und natürlich das Schreiben, wenn auch nur als Nebentätigkeit, denn was das Leben als freischaffender Künstler anbelangt, mache ich mir keine Illusionen. So gerne ich auch würde."

Ich habe meinen Weg also klar vor Augen - aber mit ebendieser Klarheit weiß ich auch, dass es mit großer Wahrscheinlichkeit anders kommen wird. Vielleicht nicht schlechter, aber doch anders. Unberechenbarer, unverhoffter – wie eben jener große Sturm. Der Sturm, den man Leben nennt.

Die Autorin ist 21 Jahre und hat gerade ihr Abitur auf der Goethe-Oberschule gemacht. Der Text erscheint auf dem Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin des Tagesspiegels.

Stefanie Engel

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