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Abitur? Was denn sonst! In Zehlendorf gehen viele Eltern wie selbstverständlich davon aus, dass ihre Kinder das Abitur machen. Als ob es keine anderen Qualifikationen geben würde.

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Vom Zwang zum Abitur in Zehlendorf: Gymnasium - koste es, was es wolle!

Unsere Autorin hat ihr Abitur schon gemacht. Hier schreibt sie darüber, unter welchem Erwartungsdruck Jugendliche besonders in Zehlendorf stehen. Sie hat nichts gegen Fleiß - aber gegen einen dem Kind schadenden und somit falschen Leistungsgedanken.

Meine beste Freundin hat eine Entscheidung getroffen: Sie wird kein „normales“ Abitur machen. Stattdessen ist sie nach der zehnten Klasse auf ein Berliner Oberstufenzentrum (OSZ) gewechselt, um dort nach zwei Jahren die fachgebundene Hochschulreife (Fachabitur) zu erlangen. Durch die Wahl eines bestimmten OSZ spezialisiert man sich  früher auf einen angestrebten Beruf. So gehören Psychologie, Soziologie und Pädagogik zu den Unterrichts- und Prüfungsfächern.

Mit der Fachhochschulreife kann man in Deutschland an Fachhochschulen sowie in einigen Bundesländern auch an Universitäten studieren. Meine Freundin hat viele Begabungen: Hochfliegende Theorien ohne erkennbaren Bezug zur Praxis und zum Leben außerhalb und nach der Schule zu erlernen, gehören vielleicht nicht dazu. Stillsitzen und einen Lehrermonolog über sich ergehen zu lassen, nur um diesen dann prüfungsgerecht wiederzukäuen, auch nicht. Dafür hatte sie in Sport immer eine 1 und die Bewertung ihres Arbeits- und Sozialverhaltens fiel überdurchschnittlich gut aus. Sie ist sich sicher, dass der von ihr angestrebte Studiengang „Soziale Arbeit“ genau das Richtige für sie ist. Mit diesem Studienziel vor Augen erscheint es ihr einleuchtend, ein Fachabitur in Richtung Sozialwesen zu machen. Dennoch stößt sie mit ihrer Entscheidung ständig auf Kritik – besonders bei ihren Freunden und deren Eltern aus Zehlendorf.

Kann ganz schön belastend sein, der Druck, Abitur machen zu müssen. Und dann vielleicht auch noch in einer Schnellläuferklasse ab der fünften Klasse.
Kann ganz schön belastend sein, der Druck, Abitur machen zu müssen. Und dann vielleicht auch noch in einer Schnellläuferklasse ab der fünften Klasse.

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Denn in Zehlendorf herrscht unter vielen Eltern das ungeschriebene Gesetz, dass das eigene Kind Abitur machen muss, koste es, was es wolle – frei nach dem Motto: Ein 3,9-er Abi im zweiten Anlauf ist besser als gar keins.

Oft ist es ein Drama: So wird frühzeitig in Nachhilfestunden und Hausaufgabenbetreuung investiert, anstatt einzusehen, dass eine praktische Ausbildung nach der 10. Klasse unter Umständen sinnvoller (und weniger leidvoll für das Kind) wäre als die zweijährige Kursoberstufe bis zum Abitur. Aber der Besuch eines Gymnasiums nach der Grundschule ist für viele Zehlendorfer Schülerinnen und Schüler obligatorisch. Weil den Eltern gar nichts anderes in den Sinn käme. Im Gegenteil: Viele sollen möglichst schon nach der 4. Klasse in eine Schnellläuferklasse aufs Gymnasium wechseln.

Ich kann mich noch gut an den Moment in der 6. Klasse erinnern, als ich zusammen mit dem Halbjahreszeugnis die Empfehlung für die weiterführende Schule erhielt. Ich wollte unbedingt eine Gymnasialempfehlung bekommen – alles andere hätte mich zutiefst enttäuscht und verunsichert. Das war so, und es war nicht nur meine Erwartung. Meine Freundinnen und ich planten bereits, alle auf dasselbe Zehlendorfer Gymnasium zu wechseln. Als eine damalige Mitschülerin dann „nur“ eine Realschulempfehlung erhielt, waren das Unverständnis und die Betroffenheit groß. Vor allem die Eltern machten ihrem Unmut Luft, und sie ignorierten die Empfehlung der Grundschule geflissentlich und meldeten ihre Tochter selbstverständlich auf einem Gymnasium an.

"Ohne Fleiß kein Preis"

Der Leistungsdruck, den Gymnasiasten in Zehlendorf, einem Bezirk mit überdurchschnittlich hoher Akademikerdichte, auch in ihrer privaten Umgebung zu spüren bekommen, ist meines Erachtens besonders groß. Durch gute Noten will man nicht nur seinen eigenen Erwartungen gerecht werden, sondern auch denen der Eltern und Großeltern.

Als ich in die siebte Klasse kam, zitierte der damalige Direktor bei der Einschulungsveranstaltung mehrfach das Sprichwort „Ohne Fleiß kein Preis“, das künftig zum Leitmotiv unser akademischen Karriere werden sollte. Ohne Fleiß, Disziplin und harte Arbeit würden wir, die neuen Siebtklässler, es auf dieser Schule nämlich nicht weit bringen, ermahnte man uns von unserem ersten Tag am Gymnasium an. In den sechs Jahren meiner gymnasialen Schullaufbahn stellte ich fest, dass viele Lehrer das Motto des Direktors auf ihre ganz eigene Weise umsetzten: In ihrem Unterricht spielte weniger die Vermittlung von Arbeitstechniken, kooperativen Lernformen und die didaktisch sinnvolle und für alle verständliche Erarbeitung des Unterrichtsstoffs eine Rolle; stattdessen wurde versucht, uns Schülern möglichst viel Wissen in möglichst kurzer Zeit „einzutrichtern“ (die Einführung von G8 verstärkte dieses Phänomen noch).

Geschafft! In Deutschland machen immer mehr Jugendliche ihr Abitur - und das ist auch gut so. Aber das heißt nicht, dass es für manche Kinder schlecht wäre, einen anderen Schulweg einzuschlagen.
Geschafft! In Deutschland machen immer mehr Jugendliche ihr Abitur - und das ist auch gut so. Aber das heißt nicht, dass es für manche Kinder schlecht wäre, einen anderen Schulweg einzuschlagen.

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Dennoch denke ich rückblickend, dass es für mich persönlich richtig war, Abitur zu machen. Durch das System der Kursoberstufe und die Wahl meiner Leistungskurse sind mir die letzten zwei Jahre meiner Schulzeit, die aufs Abitur hinführten, überwiegend positiv in Erinnerung geblieben. Von dem Wissen, das ich mir in gesellschaftskritischen Fächern wie Politikwissenschaften und Erdkunde angeeignet habe, profitiere ich täglich; die im Unterricht vermittelten Inhalte helfen mir zum Beispiel das politische Weltgeschehen in den Nachrichten besser zu verstehen.

Allerdings habe ich mich in der Schule auch nie besonders schwer getan und verfüge über ein nahezu perfektionistisches Pflichtbewusstsein, durch das ich meine Hausaufgaben fast immer zeitgerecht erledigte und mich ausreichend auf Klassenarbeiten und Klausuren vorbereitete. In den meisten Fächern hat mir das Lernen sogar Spaß gemacht hat. Einige meiner Mitschüler und Mitschülerinnen brachten hingegen eine schlechte Note nach der anderen nach Hause, haben bis zu zwei Klassen wiederholt und es dennoch immer weiter auf dem Gymnasium „probiert“.

Glück schlägt Geld

Nach zwölf Jahren Schulzeit (sechs in der Grundschule und sechs am Gymnasium) bin ich der Meinung, dass weder der Wohnort noch die Eltern zu sehr Einfluss auf die persönliche Schullaufbahn haben sollten. Natürlich spielen beide Komponenten bei der Wahl der weiterführenden Schule und des angestrebten Schulabschlusses eine Rolle, aber ausschlaggebend sollten letztlich die Neigungen und Fähigkeiten des Kindes sein. Das Kind sollte ermutigt werden, seinen eigenen Weg zu finden (und sich dabei natürlich auch anzustrengen!), aber dieser Weg muss nicht um jeden Preis zur allgemeinen Hochschulreife führen. Es gibt auch andere Reifegrade im Leben, denn, wie es eine Vertreterin der Generation Y formuliert hat: „Glück schlägt Geld“.

Die Prüfungen für das Fachabitur meiner Freundin beginnen in wenigen Wochen. Durch den Wechsel auf ein Oberstufenzentrum und die frühzeitige Spezialisierung hinsichtlich ihrer beruflichen Zukunft ist sie mir, obwohl ich älter bin, einen bedeutsamen Schritt voraus.

Das Fachabitur zu machen oder nach der 10. Klasse einen Ausbildungsberuf zu erlernen, sollte auch in Zehlendorf genauso anerkannt und geschätzt sein wie das „normale“ Abitur am Gymnasium. Ich bin mir sicher, dass dann auch mehr Zehlendorfer Schülerinnen und Schüler einen solchen beruflichen Weg einschlagen, wenn er für sie richtig ist.

Die Autorin hat vor drei Jahren in Zehlendorf Abitur gemacht. Sie lebt zurzeit nicht in Berlin. Der Text erscheint auf dem Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin des Tagesspiegels.

Maresa Mohnhaupt

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