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Berliner Eckkneipe "Offene Tür" an der Müllerstraße / Ecke Seestraße (1973)

© bpk / Liselotte & Armin Orgel-Köhne

Erinnerungen an den Wedding der 70er: Ali, Oma, die Mauer und wir

Der Wedding der 70er Jahre - eine kleine, brave Welt zwischen Plötzensee und Mauer. Die Menschen arbeiten bei Wittler, Rotaprint und Schering. Und Ali, der Neue in der Klasse, ist eine Sensation. Unser Autor erinnert sich an seine Kindheit in einem Bezirk, den es nicht mehr gibt.

Ali kam mit dem Fahrrad in die Schule, auf dem Gepäckträger seines Vaters. Alis Vater arbeitete mit dem Vater meines besten Freundes Thomas in Wittlers Brotfabrik in der Maxstraße. Von Thomas wussten wir also Bescheid, schon ein paar Tage, bevor Ali da angefahren kam auf dem Gepäckträger seines Vaters. Und was waren wir gespannt auf die Sensation. Auf Ali, den Jungen aus einer anderen Welt. Aus der Türkei! Zu uns in den Wedding!! Wahnsinn!!!

Vor Ali war Karsten der Junge, den wir mit der großen weiten Welt in Verbindung brachten. Karsten war in Braunschweig geboren, unendlich weit weg. Am Anfang hat er ein bisschen komisch geredet, so durch die Nase, aber das hat sich bald gegeben und nach ein paar Wochen sprach Karsten auch unser Weddinger Hochdeutsch. Ali war sofort der Star in unserer Klasse. Jeder wollte sein Freund sein, jeder wollte mit ihm spielen und alle haben wir ihn angebettelt, er möge doch ein bisschen Türkisch mit uns reden. Aber Ali hat gesagt, das hätte ihm sein Vater verboten, er solle in der Schule mit seinen neuen Freuden nur Deutsch sprechen, um die neue Sprache möglichst schnell zu lernen. Zu Hause würden sie sich auch nicht mehr auf Türkisch unterhalten. Da waren wir schon ein bisschen enttäuscht, denn wir hätten im Fußballverein gern mit ein paar fremden Wörtern geprahlt und mit unserer Sensation. Wer kannte schon einen Türken in Wedding?

Von Aussichtstürmen guckten wir rüber in den Ostsektor

Unsere Welt endete im Süden am Plötzensee, wo die neue Autobahn begann. Und weiter oben im Niemandsland, wo die Mauer stand. Das war eine ziemlich öde Gegend, man kam dort hin über eine breite Straße, auf der kaum Autos fuhren. Das war die Brunnenstraße, wahrscheinlich hatte man passend zu dieser Straße die Gegend Gesundbrunnen genannt. Ein richtiger Brunnen war jedenfalls nirgendwo zu sehen. Gesundbrunnen war für uns nur deshalb interessant, weil dort alle paar Tage ganze Straßenzüge abgerissen wurden. Wir sind mal mit unserer Lehrerin hingefahren, um auf einen dieser Aussichtstürme an der Mauer zu klettern um rüber in den Ostsektor zu gucken. „Das da drüben ist Prenzlauer Berg, da müssen die Menschen noch in ganz alten Häusern von vor dem Krieg wohnen“, hat unsere Lehrerin gesagt und wie gut wir es doch hätten mit unseren schicken Neubauten.

Oma erzählte von früher, von den Kommunisten

Wedding war damals eine Gegend, die man heute spießig nennen würde, aber Anfang der Siebziger kannten wir das Wort noch nicht. Zum Fußballspielen sind wir meist auf eine der vielen Freiflächen zwischen den Häusern, und davon gab es in Wedding genug, bis dann irgendwann die Bauarbeiter kamen und wir uns einen neuen Platz suchen mussten. Die Grünflächen im Goethe- oder Schillerpark waren zum Angucken da. In der Schule ging die verwegene Geschichte herum von einem Fünftklässler, der es gewagt hatte, mit der U-Bahn die eine Station von Seestraße bis Rehberge zu fahren, ohne die 35 Pfennige für einen Fahrschein zu bezahlen. Er muss es irgendwie geschafft haben, sich am Kassenhäuschen vorbeizuschleichen.

Meine Oma hat immer erzählt, wie gut es uns jetzt ginge. Früher als der Wedding noch rot war und eine Hochburg der Kommunisten, sei hier scharf geschossen worden. Jeder dritte Mann sei arbeitslos gewesen und die Frauen hätten eh nur zu Hause gesessen und das Essen gekocht. Na ja, Oma war halt schon älter. Wir wussten es besser, nämlich dass die Kommunisten alle drüben im Ostsektor wohnten. Wenn die Frauen nur zu Hause kochen würden – warum gab es dann an unserer Schule fast nur Lehrerinnen und kaum einen Lehrer? Und was waren eigentlich Arbeitslose?

Die elegante Müllerstraße mit ihren Lampenläden und Salons

Unsere Eltern arbeiteten alle, bei Wittler, Rotaprint oder Schering, in der Groterjan-Brauerei, bei der BVG oder der AEG. Direkt neben unserer Schule hatte die Bundespost eine Siedlung für ihre Leute gebaut. Zwei-, dreihundert Meter weiter war die Müllerstraße, eine elegante Einkaufsstraße mit Lampenläden und Möbelsalons und einem Sportgeschäft, wo im Schaufenster immer die neuesten Fußballtrikots hingen. An jeder fast jeder Straßenkreuzung gab es mindestens eine Eckkneipe, aber da haben wir uns nie reingetraut.

Unser Taschengeld haben wir in der Müllerhalle ausgegeben, einer riesigen Markthalle mit bestimmt hundert verschiedenen Ständen, Süßigkeiten und Spielzeug und jeder Menge Imbissständen. Nach der Schule sind wir öfter hin, um das zu essen, was alle Weddinger Kinder gegessen haben. Currywurst mit Pommes für Einemarkvierzig. Nur Ali wollte nicht. Er hat gesagt, das Fleisch sei nicht rein, was natürlich ein ziemlicher Blödsinn war, denn sonst wären wir anderen doch längst krank geworden. Und was sollte man denn sonst schon essen, Anfang der Siebziger Jahre, an einem Imbiss in Wedding?

Dieser Artikel erscheint auf unserem Wedding-Blog, dem Online-Magazin des Tagesspiegel.

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