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U-Bahnhof Leopoldplatz

© dpa

Mit der U6 von Mitte nach Rehberge: Pendelverkehr, Wedding-Style

Mitte und Wedding: zwei Geschwister, von unterschiedlichen Familien großgezogen, verbunden durch die U6. Unser Autor hat sich auf den Weg gemacht, vom hippen Mitte Richtung Norden. Mit dem Pendelverkehr hinein in das Gedärm des Wedding. Ein Reisebericht in sechs Bahnhöfen.

Es geht also raus. Und gleichzeitig geht es, natürlich, auch rein. Das lässt sich ja nicht vermeiden. Wer Mitte, Hipsterland, Galeriekinderspielplatz, in nördlicher Richtung verlässt, findet sich zwangsläufig im Wedding wieder. So einfach ist das. Der Wedding liegt am Ende meiner Straße, der Wedding liegt auf der anderen Seite der Tramgleise. Merkt man deshalb auch erst gar nicht: den Unterschied. Wird dann aber doch schnell sichtbar. In Kleinigkeiten, in Farben. In den Schaufenstern der Läden. Den Läden selbst.

Wedding und Mitte sind wie zwei Geschwister, die noch im Kreißsaal voneinander getrennt und dann von unterschiedlichen Familien groß gezogen wurden. Zwei Familien, die in unmittelbarer Nachbarschaft wohnten, aber doch grundverschieden waren. Die sich früher kannten, doch irgendwann nicht mehr viel miteinander zu tun haben wollten. Weil die einen, durch die Verwandtschaft aus dem Süden zu Geld gekommen, plötzlich in Kunst und Tourismus machten, während die anderen nicht auf die Beine kamen, Sozialhilfeempfänger und beinharte Trinker.

Am besten lässt sich dieses Verhältnis, lässt sich dieser Unterschied erkennen, wenn man unter der Stadtteilgrenze hindurchfährt, mit der U6 in die Gedärme des Weddings. Und dann, das ist wichtig, an jeder Station aussteigt und wartet, bis der nächste Zug kommt. Fünf Minuten, um das mal wirken zu lassen. Fünf Minuten, um zu schauen, was passiert, wenn man sich entfernt. Station für Station. Einsteigen bitte, die Türen schließen selbsttätig.

Schwartzkopffstraße

Fängt schon mal schlecht an. Pendelverkehr. We apologize for your inconvenience. Die Menschen stehen dicht gedrängt auf dem Bahnsteig. Als kämen sie von einem Konzert. Als wäre der Zirkus in der Stadt. Als wären sie alle gemeinsam unterwegs, ein größeres, ein noch nicht erkennbares Ziel verfolgend. Sie sind dann aber doch nur jeder in sich selbst vertieft. Wollen, das spürt man, einfach nur weg, einfach nur weiter. Auch die Stimmung: unterirdisch. In Fünf-Minuten-Abständen spuckt ein Zug neue Gesichter auf den Bahnsteig, fährt dann zurück in die Richtung, aus der er gekommen ist. Am Ticketschalter steht die Ungeduld. Rempeln. Entschuldigung, darf ich mal.

„Sie sehen doch, dass ich hier stehe.“

„Was weiß ich denn, was Sie hier machen.“

„Na, wonach sieht es denn aus? Ich bestelle mir einen 9er Chicken McNuggets.“

„Jut, dann hätte ich gerne einen BigMac.“

Fängt also, trotz allem, auch schon mal lustig an. Der nächste Zug fährt ein, fährt wieder raus. Ziel: Alt-Tegel.

Reinickendorfer Straße

Es ist das hier der Bahnhof ohne Eigenschaften. Der Bahnhof irgendwo dazwischen. Oben unwirtliche Kreuzungsrealität, Dauerrasen, Verkehrsinselkoller. Bayer-Schering. Hier unten: Immer leer, immer Durchzug. Immer alle auf Durchreise, kaum jemand steigt aus, kaum jemand steigt ein. Hier wartet nur, wer wirklich muss. Die Reinickendorfer Straße, das ist das Wolfsburg des Berliner U-Bahnnetzes. Aber auch: der letzte Bahnhof vor Wedding. Wer jetzt doch einsteigt oder schon im Wagen sitzt, weiß, wohin die Reise geht. Die einzigen beiden anderen Wartenden sind zwei Jugendliche. Kapuzenpullover, Turnschuhe. Sehen aus wie aus dem Schlägerbaukasten der Tatort-Dramaturgen. Sie tänzeln umeinander wie es nur Jungs können, die das Tänzeln auf dem Freiplatz gelernt haben. „Wie viel Liegestütze schaffst du“, fragt der eine, hört auf zu tänzeln. Sein Freund schaut ihn an, sagt, überlegen: „Alle!“

Sie steigen mit mir ein. Setzen sich mir gegenüber. Der eine schaut mich an, ich schaue zurück. Ich schaue ihn an, er schaut zurück. Keine Wimper zuckt. Großartiges Anglotztheater. Und ein kurzer Moment sinnloser Freude. Weil das hier anscheinend immer noch geht, dieses ewige Spiel. Wer schaut als erster weg, Guckduell, wie damals in Spandau, im 136er. Hier, nächster Halt Wedding, hat es, archaisches Kräftemessen, überlebt. Fast muss ich lachen, dann schaue ich weg.

Wedding

Das schmutzige Orange der Kacheln, Signalfarbe, Sie verlassen den stylischen Sektor. Das hier, Mitteboy, ist Wedding. Die Jungs entsorgen ihren Müll direkt in der Klappe des Snackautomaten. Von oben, den Ringbahngleisen, tropfen die Umsteiger die Treppen hinunter. Mit ihnen kommt der Geruch nasser Haare, Regen auf Wolle, kalte Asche.

Etwa in der Mitte des Bahnsteigs stehen zwei Franzosen, Mutter und Sohn, verloren neben ihren Hartschalenkoffern. Touristen. Es nicht zu erkennen, ob sie zum Hotel, zur Friedrichstraße oder zum Flughafen wollen. Den Weg wissen sie jedenfalls nicht. Sie sprechen einen an, der an einer Werbetafel lehnt, das Gesicht in der Farbe des herbstgrauen Parkas. Dicke Brillengläser, Hauswartmütze. Sieht aus wie einer, der aufpasst, für Ordnung sorgt, vor allem aber: wie einer, der sich auskennt. Excuse me? Er schaut. Nickt. Und erklärt den beiden dann seelenruhig und in eisenhartem Berlinerisch, wo sie hin müssen. Dann jehnse da rüber inne Lynarstraße und dann sindse schon da. Wunderbare Weddinger Gastfreundschaft. Er tippt sich an den Schirm seiner Mütze und geht. Zurück bleiben Franzosen, ratlos. Während weiter hinten einer eine Ratte auf dem Rücken und einen Becher in der Hand hat. Der Zug kommt, er steigt ganz vorne ein. Sieht nach Routine aus.

Echte Weddinger Straßenratten

Leopoldplatz

Die Ratte heißt Crazy, sagt er. Nachdem er, wie immer, sein Sprüchlein aufgesagt hat. Liebe Damen und Herren. Auf der Straße. Kleine Spende. Was zum Essen. Einen schönen Tag noch. Sie ist aber keine Straßenratte, sagt er, Zimmermannsklamotten, dunkler Cord, dunkle Frontzähne. Jung noch. Aber alt. Die Leute hier, Leopoldplatz, reagieren auf ihn. Die jungen Mädchen, die ihre Freunde zur Rolltreppe ziehen, Shopping bei Karstadt. So eine Ratte hätten sie gern.

Die alten Frauen, die ihre Einkäufe nach Hause schleppen, vom Markt kommen, auf dem heute vor allem Trostlosigkeit im Angebot ist. Kapuzenshirts mit fettem Aufdruck. Jogginganzüge in Neonschreifarben, Frotteetracht der Vergessenen. Eine der Einkaufstütenomas bleibt stehen. Etwas Kleingeld, fragt er. Nee, sagt sie. Geht. Ratte, blafft sie dann noch, voll Abscheu. Und es ist nicht klar, wen sie meint.

Er kennt das. Nimmt das der Alten nicht übel. Wir leben im Wedding, sagt er. Seit Jahren schon. Er und Crazy, echte Weddinger Straßenratten. Er lacht. Lacht dann schon nicht mehr. Im Moment sind sie pleite. So richtig scheißpleite. Nicht mal für die Obdachlosenzeitung reicht es. Deswegen jetzt auch sofort wieder rein. Nächster Zug, nächster Versuch. Das Glück jagen, bevor es vorbeifährt.

Seestraße

Kurz mal ganz raus. Nach oben. Weil die Fahrt bis hierher schon hungrig gemacht hat. Und es hier den besten Döner der Stadt geben soll. Sowieso scheint der Wedding hier in dieser Ecke ein kulinarisches Abenteuerland zu sein. Läuft man von der Seestraße aus jeweils etwa fünfhundert Meter die Müllerstraße hoch oder runter, findet man: türkische Restaurants, Dönerbuden, Imbissläden. Zwei Dutzend, vielleicht mehr. Frühstücksparadies, Burger House. Hier wird gegrillt, geschnippelt und gekocht, als würde allein der Wedding den Rest der Republik mit Lamm, Hähnchen und Kalbfleisch versorgen. Die Müllerstraße, das ist auch: Sieben Tage, sieben Köfte. Mit Preisen wie aus den 90ern und Delikatessen, wie man sie sonst nur in Istanbul findet. Sie scheint jetzt nicht fünf U-Bahn-Stationen entfernt, sondern fünf Flugstunden, die Torstraße mit ihren Macchiato-Buden, den Ganzjahreswollmützenträgern, den MacBooks. Stattdessen sitzen hier, vor dem Späti, Filterkaffee und Sterni, deutsche Rentner und begrüßen die türkische Besitzerin: "Umut, meine Sonne!" Große, ganz normale Herzlichkeit. Und keiner denkt sich was dabei.

Rehberge

Er steht jetzt da und wartet auf die Bahn zurück. Richtung Friedrichstraße. Zum S-Bahnhof Wedding. Das ist seine Strecke, sagt er. Immer Rehberge Wedding. Wedding Rehberge. Weil da die Züge aufeinander warten. Da kann man quasi zügig im Kreis fahren, sagt er. Die U6 in Wedding ist demnach auch der geradlinigste Kreis der Welt. Hin und her, rundherum. Schon mal die ganzen Drogendealer hier gesehen, fragt er. Die erkennt man daran, sagt er, dass sie immer hin- und herfahren. Wie ich, sagt er. Immer Rehberge-Schwartzkopffstraße, Schwartzkopffstraße-Rehberge. Das hat sich verlagert, erklärt er. Früher gab es das hier nicht. Die Dealer. Das Heroin. In kleinen Alukügelchen.

Das schmutzige Orange der Kacheln: U-Bahnhof Wedding
Das schmutzige Orange der Kacheln: U-Bahnhof Wedding

© Vincent Schlenner

Auch als Dealer aber kann man ganz wunderbar im Kreis fahren. Erst vor kurzem wurde nicht weit von hier, Afrikanische Straße, ein Großhändler ausgehoben. 3,5 Kilogramm Heroin. Marktwert: eine halbe Million Euro. Die Polizei hatte einen der Dealer mit 100 Gramm in der Tasche erwischt.

Alltag. Er schaut sich um, wie um sicher zu gehen, dass sie nicht hinter ihm stehen, ihn beobachten.

Er kennt die noch von damals. Aus den Junkiezeiten, sagt er. Seit zwei Jahren ist er weg vom Heroin. Aber sie quatschen ihn trotzdem immer noch an. Das beißt. Er geht ihnen deshalb aus dem Weg. Man erkennt sie leicht, sagt er, das sind so abgebrochene Arabs. Der Zug kommt. Friedrichstraße. Er steigt ein. Sagt sein Sprüchlein. An jeder Station. Wie immer. Während irgendwo in einem anderen Waggon ein paar abgebrochene Arabs Kügelchen mit Heroin verticken. Rehberge. Schwartzkopffstraße. Und zurück. Pendelverkehr. Wedding-Style.

Dieser Artikel erscheint im Wedding Blog, dem Online-Magazin des Tagesspiegel.

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