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Zeitzeugen und Buchautoren aus Lust und Verantwortung, Bernd Schulze, Wolf-Dieter Glatzel, Ludwig Schlottke und Wolfgang Mertens (v.l.n.r.)

© Anett Kirchner

Zehlendorfer Zeitzeugen veröffentlichen Buch: "Krieg ist schrecklich, mein Kind!"

Es sind Erinnerungen aus erster Hand: 32 Zeitzeugen aus Zehlendorf und Umgebung haben ihre persönlichen Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg aufgeschrieben. Unsere Blog-Reporterin hat den Herausgeber Wolf-Dieter Glatzel und einige Mitstreiter besucht.

„Ich stürmte auf den Soldaten zu, packte ihn an seinen Hosenbeinen, trat ihm mehrfach gegen seine Schaftstiefel und schrie: Ihr verdammten Russen, lasst meine Lisbeth zufrieden! Meine Mutter war vor Schrecken starr – doch nichts geschah.“ Wolf-Dieter Glatzel, damals knapp vier Jahre alt, erinnert sich genau an diesen 26. April 1945. Seine Familie wohnte in Lichterfelde-Ost. Lisbeth war das Hausmädchen. Ihm sei vermutlich deshalb nichts passiert, weil die Soldaten ein Herz für Kinder hatten. Trotzdem bleiben die Erinnerungen. Es war nur ein Augenblick von vielen. Wolf-Dieter Glatzel und 31 weitere Zeitzeugen haben ihre persönlichen Erfahrungen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges in einem Buch aufgeschrieben.

Alle Beteiligten leben heute in Zehlendorf und Umgebung. Das Buch trägt den Titel „Krieg ist schrecklich, mein Kind!“ Auf der zweiten Seite steht: Für unsere Kinder, Enkelkinder und so weiter… Es soll ein Geschichtsbuch sein, Erinnerungen aus erster Hand. „Weil wir inzwischen die letzte Generation sind, die aus dieser Zeit authentisch berichten kann“, erklärt Bernd Schulze, der ebenfalls an dem Projekt beteiligt ist. Die Idee entstand vor vier Jahren im Männertreff der Evangelischen Kirchengemeinde Zur Heimat und hatte sich schnell auch über die Gemeinde-Grenzen hinweg herumgesprochen. Es meldeten sich weitere Frauen und Männer, die an dem Projekt mit ihren Zeitzeugenberichten mitwirken wollten.

Es geht um den "lokalen Blick"

In erster Linie geht es um die letzten Tage des Krieges. Leitgedanke ist der „ganz lokale Blick“. Wie haben Damals-Zehlendorfer diese Zeit erlebt? Welche Erinnerungen haben Neu-Zehlendorfer, die erst später hierher zogen?

„Ein gut gekleideter russischer Soldat, wohl ein Offizier, kam in unsere Wohnung und tat mir Gewalt an“, schreibt I. v. S. in dem Buch. Sie war 18 Jahre alt und möchte ihren Namen nicht nennen. „Als ich mich wehrte, zog er seine Pistole und legte sie mir auf den Oberkörper. Dort blieb sie die ganze Zeit liegen. Mehr kann ich darüber auch heute noch nicht sagen.“

Ein Buch für die Geschichte, lokale, erzählte Erinnerungen von Zeitzeugen aus Zehlendorf.
Ein Buch für die Geschichte, lokale, erzählte Erinnerungen von Zeitzeugen aus Zehlendorf.

© Anett Kirchner

Das Allerschlimmste sei gewesen, dass sie schwanger wurde. Gemeinsam mit einer Freundin, die auch und sogar mehrfach vergewaltigt worden sei, habe sie ins Wasser gehen wollen; in einen Löschteich, dessen Wände so steil waren, dass keiner wieder herauskam: „Wir fassten uns an der Hand – und zögerten. Meine Freundin zog, ich sträubte mich – wir haben es dann doch nicht getan.“

Die Autoren des Buches erzählen ihre Erinnerungen in einer aufrichtigen und sensiblen Weise, die unter die Haut geht. Manche Stellen sind schwer auszuhalten, andere geben Hoffnung, wieder andere machen wütend. Selbst wer keine persönliche Verbindung zu den Betroffenen hat, fühlt sich ihnen beim Lesen nah. Nicht alle Erzählungen sind immer tragisch. Es gibt auch Schilderungen, die den Krieg nur am Rande behandeln; zum Beispiel aus dem Westen Deutschlands, aus Ostpreußen und Schlesien.

Schaun' wir doch noch mal, was wir geschrieben haben - ein Geschichtsbuch!
Schaun' wir doch noch mal, was wir geschrieben haben - ein Geschichtsbuch!

© Anett Kirchner

Wolf-Dieter Glatzel ist der Herausgeber des 314-seitigen Buches. Er hat die Erzählungen zusammengetragen, mit Begriffserklärungen und Hintergrundinformationen ergänzt sowie Fotos, Karten und Lagepläne hinzugefügt.

„Der Bezug zum christlichen Glauben ist uns bei dem Projekt sehr wichtig“, sagt Glatzel. Das Buch sei in der Gemeinde, mit der Gemeinde und für die Gemeinde realisiert worden. Deshalb beginnt es auch mit einem Zitat von Ernst Rhein, dem Gründungspfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Zur Heimat, die früher zur Zehlendorfer Paulusgemeinde gehörte und erst 1948 selbständig wurde: „Ein Leben ist so reich, wie es reich ist an Erinnerungen.“

Und die Erinnerung insbesondere an den Tag, als die Rote Armee von Teltow nach Zehlendorf vorrückte, ist bei denen, die es erlebten, allgegenwärtig. „Frauen und Kinder irrten hilflos durch die Truppen, stolperten am Teltowkanal entlang, vorbei an getöteten Jungen und alten Männern des Volkssturms und fanden Unterschlupf in der Südschule“, berichten die Zeitzeugen. Der Kampf ums bloße Überleben habe seinerzeit das Leben in Zehlendorf bestimmt – Hungern, Hamstern, Organisieren und Frieren.

In der Erinnerung von Bernd Schulze musste er am 24. April 1945 im Garten seines Elternhauses in der Claszeile durch kniehohes Feuer laufen. Es sei zum Glück nichts passiert. Aber das Haus Claszeile 41 habe gebrannt, ein eingeschossiges Gebäude mit Reetdach. „Während wir dann im Splittergraben saßen, schlugen auf unserem Grundstück zwei Granaten ein, eine davon dicht am hinteren Zugang des Splittergrabens. Ein Volltreffer hätte alle getötet.“ Bernd Schulze war damals fünf Jahre alt.

Anett Kirchner ist freie Journalistin und bloggt seit Januar 2014 auch für den Zehlendorf Blog des Tagesspiegels
Anett Kirchner ist freie Journalistin und bloggt seit Januar 2014 auch für den Zehlendorf Blog des Tagesspiegels, außerdem schreibt sie für die evangelische Wochenzeitung "dieKirche".

© privat

Mit dem Buch „Krieg ist schrecklich, mein Kind!“ möchte der Männertreff der Kirchengemeinde Zur Heimat keinen Gewinn machen, deshalb wird es nicht über den Handel vertrieben. Auf Wunsch kann es gegen eine Erstattung der Herstellungskosten von 20 Euro bei Ludwig Schlottke entweder per E-Mail unter ludwig@schlottk.de oder per Telefon unter 030/8177404 bestellt werden.

Die Autorin ist freie Journalistin und schreibt unter anderem für die Evangelische Wochenzeitung "dieKirche". Der Text erscheint auf dem Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin des Tagesspiegels.

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