zum Hauptinhalt
Von hier läuft man nicht weit und ist im Wald und an der Krummen Lanke.

© Thilo Rückeis

Eine Liebeserklärung an Berlin-Zehlendorf: Bunt - nicht nur bürgerlich!

Es gibt sehr viele Klischees über Zehlendorf: zu alt, zu langweilig, zu bürgerlich. Unsere Autorin sagt, warum das so nicht stimmt, welche magischen Momente sie erlebt und wieso sie sich in den Stadtteil verliebt hat.

„Sie klingen aber auch nicht wie Zehlendorf“, sagte kürzlich ein Kollege zu mir, als wir zum ersten Mal telefonierten. „Wie klingt Zehlendorf denn?“, wollte ich wissen. „Na irgendwie gesetzter, ruhiger und… älter.“ Der Kollege wusste nicht, wie alt ich bin. Mit meinen 51 Jahren habe ich eine jünger wirkende Stimme, mit der ich meist munter artikuliere, was ich denke und andere auch oft zum Lachen bringe. Zu jung für Zehlendorf? Es ist ja bekannt, dass unser Bezirk laut Bevölkerungsstatistik der älteste in Berlin ist. Hier leben anteilig die meisten Senioren, von rund 260 000 Einwohnern sind das etwa 70 000. Hinzukommt die vielzitierte Bürgerlichkeit, die Zehlendorf anhaftet. Laut Duden bedeutet bürgerlich: angepasst, etabliert, konservativ, ordentlich, solide. Aber auch engherzig, borniert, engstirnig, kleingeistig, kleinlich, spießerhaft. Trifft das zu? Ist unser Bezirk wirklich so alt und so bürgerlich? Ich bin kein Fan von Statistiken (der ältestes Bezirk, ergo: langweilig!) und Definitionen (bürgerlich, ergo: schlecht!). Klar, Zehlendorf ist nicht so hip wie Mitte, nicht so jung wie Prenzlauer Berg, kein Meltingpott wie Kreuzberg oder Neukölln. Unser Bezirk hat andere Vorzüge, wegen derer ich gerne hier wohne.

Ich liebe den Grunewald, die Seen, die bessere Luft, das Mehr an Ruhe, das Dörfliche, die Entschleunigung. Die Straße, in der wir leben, ist kurz. Sie hat nur drei Dutzend Hausnummern. Bis zum Wald sind es 69 Schritte, bis zur Krummen Lanke 826. Das haben die Kinder mal abgezählt. Ich weiß noch, wie magisch es war, als ich zum ersten Mal hierher kam. Es war Sommer, wir hatten uns – mit gefühlten 150 weiteren Interessenten – um eine Doppelhaushälfte beworben. In deren Garten waren am Ast eines Apfelbaumes ein Bademantel und ein Badeanzug zum Trocknen aufgehängt. Dieses Bild verzauberte mich. Das muss wohl auch der Vermieter gespürt haben, denn wir bekamen – oh Wunder – den Zuschlag.

Kaum waren wir eingezogen, erkundete ich die Einkaufsmöglichkeiten. An der wenige Minuten Fußweg entfernten U-Bahn-Station Onkel Toms Hütte entdeckte ich ein Reformhaus. Immerhin!, dachte ich und ging hinein, um Brot zu kaufen. Doch wie überrascht war ich, als ich realisierte, dass sich unten im Bahnhof eine richtige Ladenstraße befand! Elektrogeschäft, Apotheke, Supermarkt, Buchladen, Bäcker, Drogerie, Frisör – das alles gab es da! Alle die hier wohnen, lieben die Ladenstraße! Mehr und mehr mausert sie sich zum sozialen und kulturellen Zentrum im Kiez. Seit Juni wird immer donnerstags auf dem Bahnhofsvorplatz ein Wochenmarkt abgehalten.

Dankbarkeit für die Amerikaner

Einmal sind wir in der Zwischenzeit noch umgezogen. Aber nur innerhalb unserer kleinen Straße. Es war eine lustige Aktion mit Freunden und ohne Umzugswagen. Die Möbel, Teppiche und Bücherkisten wurden einfach auf Rollbrettern zum baugleichen neuen Haus gerollt und dort exakt wie zuvor wieder aufgebaut. Später erfuhren wir, dass in den 30er Jahren mal ein Zehlendorfer Nazi-Bürgermeister unser Vormieter gewesen ist. Der hatte sich das gesamte Doppelhaus unter den Nagel gerissen und es bewohnt. Im Treppenhaus sind noch die Spuren eines inzwischen wieder zugemauerten Durchbruchs zu erkennen.

Ich lebe gerne im ehemaligen „Amerikanischen Sektor“. Und immer, wenn ich auf restliche historische Spuren der Amerikaner stoße, spüre ich Dankbarkeit. Ich bin dankbar dafür, dass die Amis und die anderen West-Alliierten der einen Hälfte Berlins und Deutschlands nach dem verlorenen Krieg die Freiheit brachten. Dankbar dafür, dass sie an West-Berlin festhielten und es nicht zuletzt mit der Luftbrücke gegen die Sowjets verteidigten. Leider werden diese Spuren immer weniger. Das amerikanische Konsulat in der Clayallee gibt es noch. Einige Schulen im Bezirk erinnern an amerikanische Persönlichkeiten: John F. Kennedy, Quentin Blake, Wilma Rudolph. Und seit zwei Jahren heißt eine Sekundarschule nach dem berühmten Luftbrückenpiloten Gail S. Halvorsen.

Zehlendorf wird sich schon bald verjüngen

Das Alliiertenmuseum allerdings will demnächst von der Clayallee nach Tempelhof umziehen. Das Deutsch-Amerikanische Volksfest gibt es hier nicht mehr. Die Truman-Plaza, auf dem es alljährlich stattfand, heißt nun mondän „Fünf Morgen Dahlem Urban Village“ und wird mit Luxuswohnungen bebaut. Und der alte Baseballplatz in der Stewardstraße ist leider auch Geschichte, weil er von verständnislosen Neu-Nachbarn weggeklagt wurde. Auf dieser Fläche hat das Bezirksamt für rund 60 000 Euro eine hügelige Grünanlage angelegt, deren Sinnhaftigkeit sich mir nicht erschließt. Eine Fußballwiese hätte auch gereicht.

Seit einigen Jahren hängen an Zehlendorfer Bäumen und Laternenmasten vermehrt Zettel mit abreißbaren Telefonnummern. Junge Familien stellen sich vor: „Hallo! Wir sind Anna (3) und Tom (1) mit Mama Sabine und Papa Peter. Wir möchten gerne hier wohnen!“ Und das, obwohl Zehlendorf mit „alt“ und „bürgerlich“ etikettiert wird, die Mieten in die Höhe schießen, und die Kaufpreise für Häuser unverschämt explodieren. Zehlendorf wird sich schon bald ordentlich verjüngen. Rund 5000 neue Wohnungen sind derzeit in Bau und Planung. Dass die damit einhergehenden steigenden Schulkapazitäten vom Bezirk dummerweise nicht mit geplant worden sind, ist wiederum eine ganz andere Geschichte. Wie sagte der Kollege doch gleich? „Sie klingen aber auch nicht wie Zehlendorf.“ Na und?! Auch ich bin Zehlendorf! Statistisch gesehen noch ein junger Hüpfer für unseren Bezirk. Aber egal, ob alt oder jung – Zehlendorf ist bunt!

Nicki Pawlow ist Schriftstellerin und lebt mit ihrer Familie seit bald 15 Jahre in Zehlendorf. Zum kulturellen Leben im Bezirk trägt sie bei, indem sie in ihrem Wohnzimmer einen Künstlersalon veranstaltet - für alt und jung. Zuletzt erschien ihr Roman "Der bulgarische Arzt" (Langen Müller Verlag München).

Der Text erscheint auf Tagesspiegel-Zehlendorf, dem digitalen Stadtteil- und Debattenportal aus dem Berliner Südwesten. Wenn Sie selbst Texte verfassen wollen, schreiben Sie gerne an zehlendorf@tagesspiegel.de

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false