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Schon als Kind, wenn er seine Tante besuchte, wurde ihm erzählt, dass in Dahlem große Gebäude für die Uni gebaut werden. FU-Präsident Peter-André Alt.

© dpa

FU-Präsident Alt im Interview mit dem Zehlendorf Blog: "Protest gehört zu einer Uni - besonders zu unserer"

Er hat an der Freien Universität studiert, geforscht und gelehrt. Seit 2010 ist Peter-André Alt Präsident. Hier sagt er, wie die Uni den Spagat zwischen Tradition und Zukunftsfähigkeit meistert, warum das Internet vergesslich macht und wieso er auch in Zehlendorf lebt.

Der Zehlendorf Blog trifft den Präsidenten der Freien Universität (FU), Peter-André Alt, in seinem Büro im Präsidialamt. Von seinem Fenster kann Alt auf einen Park und einen Spielplatz schauen, wo er einst auch mit seinen Kindern spielte. Bereitwillig lässt sich Alt in Position schieben, denn auch die Video-Redaktion des Tagesspiegels ist dabei, Jana Demnitz wird den Präsidenten nach dem Interview noch mit der Kamera an verschiedene Orte auf dem Campus begleiten. Auf einem großen Papierbogen, der jeden Morgen umgeblättert wird, steht das tägliche Motto des Literaturwissenschaftlers. An diesem Mittwoch lautet es: "Die Zeit bekehrt mehr Menschen als die Vernunft." (Thomas Paine).

Herr Alt, was war Ihre erste persönliche Begegnung mit der FU?

Als Kind, und das ist eher eine Erinnerung, besuchte ich meine Tante, die noch heute in der Thielallee wohnt, und sah die so genannte Obstbaumwiese, auf der man die Bäume fällte, um den Komplex der "Rostlaube" zu errichten. Das muss so in den frühen Siebzigerjahren gewesen sein. Damals wurde mir gesagt, hier entstehen große Gebäude für die Universität.

Irgendwann haben Sie sich dann selbst dort immatrikuliert.

Genau. Das war die erste wirkliche Begegnung. An einem Oktobertag stand ich in einer langen Schlange in der Boltzmannstraße, um mich einzuschreiben und die nötigen Dokumente zu holen. Ich weiß noch, dass ein wildes Treiben herrschte, es hatte etwas von Basar-Atmosphäre.

Gab es damals ein Gefühl für die Geschichtsträchtigkeit dieser Universität oder war es nur der Übergang vom Schüler- zum Studentendasein?

Es war beides. Ich erinnere mich sehr genau daran, dass mich dieses breite Spektrum an Angeboten faszinierte, und ich das Gefühl hatte, ich könnte eigentlich alles studieren. Und ich weiß noch, dass ich das Vorlesungsverzeichnis mit großer Leidenschaft durchsah. Insofern ist die Abschaffung von Vorlesungsverzeichnissen zugunsten digitaler Verzeichnisse, auch wenn es für die Hochschulen finanziell günstiger ist und die Studentinnen und Studenten sich häufiger im Internet informieren, auch ein Verlust an Universitätskultur.

Und der Mantel der Geschichte…

..wehte einem entgegen. Es war ein bewusstes Eintreten in eine Freie Universität, die eine eigene Geschichte hatte, und diese Geschichte kannte ich auch. Ich hatte mich intensiv mit den 68ern beschäftigt, wir waren ja die erste Post-68er-Generation, wir waren politisch, interessiert an Fragen von Ökologie und Gesellschaftsveränderungen.

Wie kann man aktiv diese Tradition pflegen, wenn man nicht gerade sowieso das Kennedy-Jubiläum feiert und an seine Rede im Henry-Ford-Bau erinnern kann?

Nur zu historisieren wäre falsch! Ich bin geschichtlich interessiert, gerade als Literaturhistoriker, aber man muss auch eine gute Balance finden. Wir erzählen ja unsere Geschichte, dokumentieren sie in Ausstellungen, berufen uns auf sie, wenn wir eben solche Jubiläen feiern oder an bestimmte Ereignisse wie an die Schüsse auf Benno Ohnesorg,1967 erinnern. Aber eine Universität muss auch nach vorn schauen und im Blick haben, wie sie sich positioniert, um sich im Wettbewerb behaupten zu können.

Gehört Protest zur Universität?

Protest gehört zur Jugend. Wenn man das ganze Leben noch vor sich hat, dann gibt es viele gute Gründe, unzufrieden zu sein und Dinge kritisch zu sehen. Universitäten bilden mündige Bürger aus und qualifizieren sie, dazu zählt auch das Beharren auf bestimmte Positionen. Insofern gehört der Protest immer auch zu einer Uni dazu. Besonders zu unserer.

Sind die Studierenden heutzutage zu sehr beschäftigt, um zu protestieren?

FU-Präsident Peter-André Alt mit seiner Ehefrau, die Schriftstellerin Sabine Alt.
FU-Präsident Peter-André Alt mit seiner Ehefrau, die Schriftstellerin Sabine Alt.

© Kai-Uwe Heinrich

Die Gruppe der Studierenden ist sehr heterogen. Es gibt Studentinnen und Studenten, die sind sehr pragmatisch, stark auf die berufliche Laufbahn ausgerichtet, auf das, was einem hilft und nutzt, es gibt aber auch andere, die sich in der Tradition der Protestbewegung bewegen. Manche können beide Rollen spielen. Anders als in den Siebzigerjahren, wo ja eine ganze Generation mit Selbsterfindung und Selbstmodellierung, mit Privatem und Politischem beschäftigt war, ohne zu studieren. Diese Zeiten sind vorbei.

Fehlt nicht gerade heute die Zeit zur Selbstfindung?

Man kann das so sehen, weil das Studium beschleunigt worden ist durch die Bologna-Reform und die Notwendigkeit, dass wir unsere Studierenden in einer bestimmten Zeit zum Abschluss führen müssen und dafür ja auch unsere staatlichen Zuschüsse erhalten. Auf der anderen Seite muss man sagen, dass eine Gesellschaft, die fast 50 Prozent eines Jahrgangs qualifiziert in die Universität bringen möchte, es sich nicht leisten kann, wenn die einzelnen Generationen zehn Jahre oder länger studieren.

Wie schafft man es als Universität, global zu sein und gleichzeitig lokal verankert?

Es gibt diese schöne Formel „Internationalisation at home“. In Amerika, in Harvard oder Yale, erleben sie das auch, dass Menschen aus aller Welt zusammen kommen, die Universität ist ein Schmelztiegel, und das ist hier in Dahlem genauso. Auf dem Campus der Freien Universität hören sie alle Sprachen der Welt, zugleich ist es Dahlem, Zehlendorf, Berlin.

Aber der lokale Bezug zu Dahlem und Zehlendorf fehlt doch, oder? Viele sehen die Uni als großes Raumschiff, was mitten im Bezirk gelandet ist, aber die Bewohner pflegen keinen Austausch mit den Galaktischen…

Nicht nur historisieren, auch in die Zukunft schauen und sich fit machen für den Wettbewerb - das hat Peter-André Alt mit seiner Universität vor.
Nicht nur historisieren, auch in die Zukunft schauen und sich fit machen für den Wettbewerb - das hat Peter-André Alt mit seiner Universität vor.

© Thilo Rückeis

Ich sehe das ganz anders. Ich nehme das als unser Cambridge wahr, wo ein Dorf ein Fenster zur Welt aufstößt, durch die Wissenschaft, die dort betrieben wird. Das ist hier in Dahlem genauso. Es gibt nicht nur Parallelwelten, sondern die ältere Dame, die ihren Hund ausführt und die Studentin, die aus der U-Bahn steigt gehören beide zum Bild von Dahlem. Das ist anders als in Mitte, wo sie noch die vielen Touristen haben, wir sind hier eine sehr lokale, traditionelle, aber weltoffene Region, wo Menschen gerne leben, einkaufen gehen und ihre Kinder auf den Spielplatz bringen. Und wo studiert wird. Das mischt sich gut.

Hat die Uni eher Zehlendorf geprägt oder umgekehrt?

Beides. In manchen Straßen können sie gar nicht erkennen, ob das ein Institut oder eine Privatvilla ist, sie erkennen es nur am blauen Schild der Freien Universität. Natürlich profitiert Dahlem auch von dieser Internationalität und den jungen Menschen. Wer weiß, ob etwa das Kino noch existieren würde, wenn die Uni nicht wäre. Außerdem ist der Wissenschaftsstandort älter als die Universität, 1911 wurde damit begonnen, und die alten Institute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft waren sehr prägend für Dahlem. Damals stand hier nämlich fast gar nichts.

Was bedeutet Zehlendorf Ihnen persönlich?

Sehr viel. Ich lebe, wohne und arbeite hier. Ich kenne Zehlendorf als einen Ort, an dem man den Wechsel der Jahreszeiten wunderbar wahrnehmen kann. Der Winter ist genauso schön wie der Sommer oder das Frühjahr und der Herbst. Es ist ein sehr grüner Bezirk, der das Privileg bietet, dass ich hier arbeiten kann und gleichzeitig sehe, wie sich die Natur verändert. Ich habe es nicht weit zum Wasser, ich kann mit dem Fahrrad durch die Wälder radeln, und wenn ich mal Auto fahre, dann finde ich immer einen Parkplatz.

Die Menschen…

…sind sehr entspannt. Und das alles mag ich an Zehlendorf.

Ist die "unternehmende FU", wie Sie sie nennen, ein Instrument für die lokale Anbindung?

Ja. Wir sind ja sowieso mit 5000 Arbeitsplätzen der größte Arbeitgeber des Bezirks. Aber wir erzeugen eben auch Wirtschaftskraft. Das Projekt der Ausgründungen ist schon sehr wichtig, deshalb haben wir uns auch deutlich zum Technologie- und Gründungszentrum Südwest bekannt, das auch der Bezirk will. Dafür kämpfen wir schon seit vielen Jahren. Die Dimensionen von Adlershof wird es nicht haben, aber es ist eine runde Sache. Für den Bezirk bedeutet es, dass nicht nur Unternehmen herkommen, sondern zukunftsträchtige Firmen, die auch wachsen werden. Die Universität der Zukunft muss dieses Standbein der Ausgründungen erfolgreich entwickeln, wenn sie konkurrenzfähig bleiben will.

Peter-André Alt, Präsident der Freien Universität Berlin
Peter-André Alt, Präsident der Freien Universität Berlin

© Thilo Rückeis

Sie sind Geistes- und Literaturwissenschaftler, ein Mann des Buches, Kafka- und Schiller-Biograf: Nehmen die Geisteswissenschaften in unserer digitalen Welt genug Einfluss?

Das ist für mich eine schwierige Frage. Auf der einen Seite weiß ich, dass die Freie Universität eine Ausnahme ist, weil wir die Geisteswissenschaften schätzen und pflegen, sie sind die Zugmaschine für unsere erfolgreichen Exzellenzprojekte gewesen, und auch die naturwissenschaftlichen Kollegen wissen das und schätzen das.

Aber…

Man muss sich fragen, was es bedeutet, wenn wir in immer kleineren Einheiten Kultur zur Kenntnis nehmen: Zur Geisteswissenschaft gehört Zeit, Ausdauer, Geduld, langwierige Lektüre. Unsere Zeit aber ist extrem beschleunigt, in der intellektuellen und kognitiven Wahrnehmung, die Zeitfenster, die man aufmacht und schließt, wechseln ständig. Und ich glaube, dass diese Praxis der Dekonzentration etwas ist, was quer steht zu dem Anspruch der Geisteswissenschaften an langen Lösungen zu arbeiten, an langen Erzählungen. Insofern sehe ich da einen Konflikt.

Früher waren die Informatiker und Computerfachleute die Nerds, heute die Germanisten und Philosophen – so hat es ein Kollege von ihnen ausgedrückt, der in Princeton deutsche Literatur lehrt.

Wenn man in Amerika unterwegs ist, dann erzählen ihnen Kollegen dort von einer großen Sorge: Die Sorge, dass die Geisteswissenschaftler marginalisiert werden. Alles, was mit Europa, mit europäischer Geschichte oder Sprachgeschichte zu tun hat, ist in den letzten zehn Jahren dramatisch reduziert worden. Historische Epochen vor dem 18. Jahrhundert, so ist die herrschende Meinung, könne man vernachlässigen. Ich finde das erschreckend. Auch in England, wo sich der Staat in einer völlig verantwortungslosen Weise aus der öffentlichen Finanzierung der Hochschulen zurückzieht, ist Ähnliches im Gange.

Schafft das Internet mehr Vergessen und weniger Gedächtnis, obwohl wir noch nie so viel speichern konnten wie heute?

Ja, weil die Arbeitsformen andere geworden sind. Früher habe ich einen Text gelesen, dann habe ich ihn exzerpiert, dann das Exzerpt auf eine Karteikarte übertragen, dann das nächste Textstück gelesen, und am Ende habe ich einen Aufsatz sehr langsam und geduldig geschrieben.

Der Autor ist Redakteur für besondere Aufgaben im Tagesspiegel.
Der Autor ist Redakteur für besondere Aufgaben im Tagesspiegel.

© Kai-Uwe Heinrich

Puh, werden heute manche Studenten sagen.

Ja, das ist ein langwieriger Prozess, der bei mir aber dazu geführt hat, dass das, was ich mir an Wissen angeeignet habe, viel länger verankert blieb. Das alte System der Karteikarten - das ja auch haptische Dimensionen hatte - war eine Art Memotechnik, sehr hilfreich für die Erinnerung.. Wir sind im digitalen Zeitalter viel häufiger auf unterschiedlichen Ebenen gleichzeitig unterwegs, und das führt definitiv zur Zerstreuung.

Eine kleine Vision: Was ist die FU in 20 Jahren?

Eine Netzwerkuniversität, die regionale und internationale Verbünde pflegt und die Welt hierher holt, weil die Welt weiß, dass sie einen faszinierenden Wissenschaftsstandort erlebt. Nicht zuletzt eine unternehmende Universität, die durch Ausgründungen glänzt und ihren Ruf, auch Wirtschaftsmotor zu sein, stärkt.

ZUR PERSON

Peter-André Alt, 53, wurde am 16. Juni 1960 in Berlin geboren und wuchs in Charlottenburg auf. Nach dem Abitur schrieb er sich zwar für Medizin an der Freien Universität ein, studierte aber dann lieber Germanistik, Politische Wissenschaften, Geschichte und Philosophie. An der FU wurde er 1984 zum Dr. phil. promoviert, 1993 erfolgte die Habilitation. Der Literaturprofessor wurde unter anderem durch seine Kafka- und Schiller-Biografien bekannt. Als Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft leitete er bis 2010 die Dahlem Research School. Im Mai 2010 folgte er als Präsident der FU auf Dieter Lenzen, 2012 wurde Alt auch Präsident der Schillergesellschaft. Er ist verheiratet und hat zwei Söhne. Er lebt in Zehlendorf.

Der Autor des Interviews ist Redakteur für besondere Aufgaben im Tagesspiegel. Der Text erscheint auf dem Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin der Zeitung.

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