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Ein Kind hinten, ein Kind vorne - seit 20 Jahren lebt die Familie unserer Autorin ohne Auto.

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Zehlendorfer Großfamilie ohne Auto - geht das?: Statuslos glücklich

Zwei Eltern, vier Kinder, kein Auto. Unsere Autorin lebt in einer Großfamilie ohne Auto - eine Seltenheit, vor allem in Zehlendorf, für die sie sich immer wieder erklären und rechtfertigen muss. Das nervt, denn auch ohne Auto kann man mobil sein. Oder, liebe User?

In einem Monat beginnen in Berlin und Brandenburg die Sommerferien. Spätestens drei Wochen später, wenn auch im Rest von Deutschland die Autos mit Hängematten, Sonnenschirmen und Schwimmreifen beladen werden, wird der ADAC wieder vor „sehr starkem Verkehr und längeren Stauungen“ warnen. Die mühsam aufgebaute harmonische Familienurlaubsstimmung wird spätestens beim ersten Stau auf die Probe gestellt, wenn der Platz im Auto immer kleiner und die Luft immer stickiger zu werden scheint.

Gut, dass mir das nicht passieren kann – zum einen, weil ich nicht mehr mit meinen drei jüngeren Schwestern und meinen Eltern, sondern mit meinen Freunden Urlaub mache; zum anderen, weil wir kein Auto haben. Ja, richtig, ich bin Teil einer sechsköpfigen Großfamilie ohne Auto. Die Reaktionen auf diese vor allem in Zehlendorf höchst ungewöhnliche Tatsache sind fast immer die gleichen: „Was, wie macht ihr das denn?! Wie geht ihr einkaufen und wie fahrt ihr in den Urlaub?“ Die Fragen an sich sind nervig genug, doch noch anstrengender ist die dahinter steckende Ungläubigkeit, die impliziert, dass man sich als sechsköpfige Familie ohne Auto nicht ausreichend versorgen und fortbewegen könnte. Ja, das Leben in einer Großfamilie ohne Auto kann anstrengend sein, aber nein, ich habe nicht das Gefühl, dass uns etwas Essenzielles zum Glücklichsein fehlt.

In den Urlaub mit dem Zug

In den Urlaub sind wir seit ich denken kann mit dem Zug gefahren. Der Vorteil dabei: Zu sechst sind wir so viele, dass wir ein ganzes Abteil für uns alleine haben. In den Kindergarten brachte uns meine Mutter mit dem Fahrrad. Im Kindersitz hinten saß ich, im Kindersitz vorne meine 18 Monate jüngere Schwester. Zum Einkaufen wurden die zwei Kindersitze gegen vier Fahrradtaschen ausgetauscht – satt geworden sind wir immer.

Meine Eltern sind weder bekennende Greenpeace-Aktivisten, noch waren sie je in einen traumatischen Unfall verwickelt, der sie dazu bewegt hat, kein Auto mehr zu besitzen. Sie sind schlicht und einfach der Meinung, dass es auch mit vier Kindern ohne geht. Früher fand ich das ziemlich blöd. Während meine Freundinnen nach der Klassenfahrt mit dem Auto vom Bahnhof abgeholt wurden, musste ich mit meinem Vater im überfüllten BVG-Bus nach Hause fahren. Als ich mit acht Jahren meinen Rucksack voller Kuscheltiere beim hektischen Umsteigen im Bahnabteil vergaß, beschloss ich wütend, nie mehr Zug zu fahren. Die Kuscheltiere sind bis heute nicht wieder aufgetaucht – ich fuhr trotzdem weiter Bahn.

Ich erinnere mich, dass ich in der Grundschule nie eine Antwort auf die Frage parat hatte, warum wir kein Auto haben. Das war halt einfach so (im übrigen schon immer, also seit meiner Geburt) ist immer noch so und wird voraussichtlich auch zukünftig so sein. Mittlerweile finde ich das aber nicht mehr schlimm, was vielleicht auch daran liegt, dass es in meinem Freundeskreis inzwischen normaler geworden ist, kein Auto zu haben. Als Student können sich die wenigsten ein eigenes Auto leisten, zudem ist man in einer Großstadt wie Berlin nicht zwingend darauf angewiesen. Letzteres war und ist neben den laufenden Kosten das Hauptargument meiner Eltern dafür, kein Auto zu haben. Damit gehören wir in Zehlendorf zur absoluten Minderheit. Vielleicht ist die mangelnde Vorstellungskraft unter den Autobesitzer einer der Gründe für die allgemeine Ungläubigkeit, die uns als Familie entgegengebracht wird, wenn wir sagen, dass wir kein Auto haben. Ich finde diese Reaktion schade und in Zeiten des Klimawandels irgendwie unangemessen.

Ein Statussymbol - nur in Zehlendorf

Klar ist (k)ein Auto zu haben Gewohnheitssache und ich sage gar nicht, dass Autos nur überflüssig sind und die Umwelt verschmutzen. Ich glaube aber, dass das Auto längst als Statussymbol ausgedient hat – nur in Zehlendorf irgendwie nicht. Ständig mussten und müssen wir uns als Nicht-Autobesitzer-Familie rechtfertigen. Das nervt.

Meine Eltern haben beide einen Führerschein und für Familienfeiern, Spontanreisen und Ikea-Transporte leihen auch wir uns über Carsharing-Plattformen ab und zu ein Auto. Für Einkäufe, Schul- und Arbeitswege reicht hingegen das Fahrrad, die S- oder U-Bahn. Ich habe mich nach 20 Jahren ohne Auto so daran gewöhnt, dass ich selbst gar keins mehr will. Ja, ich habe noch nicht mal den Führerschein, was, ich gebe es zu, auch an meinem „miserablen Fahrstil“ liegt, auf den mich mein Fahrlehrer äußerst sensibel in jeder Fahrstunde hinwies. Nach der ersten verhauenen Fahrprüfung fehlte mir bislang die Motivation, es noch ein mal zu versuchen. Warum ich dann überhaupt mit dem Führerschein angefangen habe? „Braucht man halt“, sagen einem alle, „auch ohne eigenes Auto“. „Braucht man halt“, dachte ich irgendwann selbst und fuhr weiterhin mit dem Fernbus oder per Mitfahrgelegenheit in den Urlaub, ließ meine Ikea-Möbel liefern und kaufte mir eine BVG-Monatskarte.

Die Autorin Nora Tschepe-Wiesinger ist freie Mitarbeiterin des Tagesspiegel und des Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin aus dem Südwesten. Sie studiert zurzeit in Hannover.
Die Autorin Nora Tschepe-Wiesinger ist freie Mitarbeiterin des Tagesspiegel und des Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin aus dem Südwesten. Sie studiert zurzeit in Hannover.

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Ich sage nicht, dass ich das Projekt Führerschein nie zu Ende bringen werde, aber momentan bin ich von der Notwendigkeit einfach nicht überzeugt genug.

Die Autorin schreibt als freie Mitarbeiterin für den Tagesspiegel, sie ist in Zehlendorf aufgewachsen. Der Text erscheint auf dem Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin aus dem Südwesten.

Nora Tschepe-Wiesinger

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