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Winfried Glück, Leiter von Zephir.

© Armin Lehmann

Sozialarbeit im Bezirk der Reichen, Teil II der Serie: Armut in Zehlendorf

Der Verein Zephir macht Sozialarbeit in Zehlendorf. Über die sozialen Probleme hat der Zehlendorf Blog mit Leiter Winfried Glück (58) gesprochen. Er ist Diplompädagoge und promovierter Sozialwissenschaftler. Bei Zephir ist er seit 2007. Teil zwei der Armutsserie.

Herr Glück, das Klischee sagt, Zehlendorf ist fein, reich und langweilig. Nur soziale Probleme gibt’s hier nicht. Nur Idylle hier?

Zehlendorf reich und langweilig, Berlin hingegen arm und sexy? Nein, natürlich nicht. Das sind Klischees und Zuschreibungen. Natürlich gibt es auch in diesem Teil des Bezirkes Unterschiede.

Worin besten diese Unterschiede?

Die ökonomischen und finanziellen Faktoren bestimmen die jeweilige Lebenswelt. Insofern gibt es in Zehlendorf  reiche, arme und Menschen der Mittelklasse, wobei wahrscheinlich im Vergleich zu anderen Bezirken, hier eine größere Dichte höherer Einkommen und Besitz zu verzeichnen ist.

Wo sind die ärmeren Haushalte?

Betrachte ich zum Beispiel den Kiez des Runden Tisches Zehlendorf Süd, dann bildet sich eine soziale Struktur ab, bei der einkommensschwache Haushalte dominieren. Das bedeutet hier leben viele Arbeitslose, Rentner, Alleinerziehende. Dieser Kiez, das sagen auch die offiziellen Stellen der Jugendbehörde, sprechen von einem der sozialen Brennpunkte in Zehlendorf. Wir finden hier bei den unter 18-Jährigen einen deutlich höheren Anteil von Migranten als anderswo in Zehlendorf.

Wie angespannt ist die soziale Situation für diese Menschen?

Jedes dritte Kind unter 15 Jahren nimmt in Zehlendorf Süd soziale Transferleistungen in Anspruch. Die Inanspruchnahme von diesen Leistungen ist im Vergleich zur  Region doppelt so hoch. Zehlendorf-Süd ist das Gebiet mit den höchsten Hilfezahlen in Steglitz-Zehlendorf. 

Geht die Schere arm reich auch in Zehlendorf auseinander?

Generell gilt der Befund von Hans-Ulrich Wehler auch hier, dass die obersten fünf Prozent der Sozialpyramide enorm begünstigt werden, während die Lebensbedingungen und Einkommen der Mittelschicht und erst recht der Unterschichten stagnieren oder sich verschlechtern. Durch die Entwicklung der Mieten und der Bebauung mit hochwertigen Immobilien wie zum Beispiel an der Clayallee werden in den Bezirk eher wohlhabende Bevölkerungsschichten angezogen und durch den zurückgehenden verfügbaren bezahlbaren Wohnraum einkommensschwache und  arme Familien verdrängt.

Sehen Sie in dieser Wohnungsbau- und Ansiedlungspolitik ein bewusstes System?

Ich würde sagen, es geht darum, dass meiste Geld rauszuholen. Eine ausgewogene soziale Stadtplanungspolitik ist daran jedenfalls nicht erkennbar.

Bezahlbarer Wohnraum wird auch in Zehlendorf knapp?

Ja. Der Anteil des bezahlbaren Wohnraumes für niedrige- und mittlere Einkommen geht auch in Zehlendorf zurück. In unserer Arbeit mit Familien haben wir es jetzt öfters mit Androhung oder Vollzug von Zwangsräumungen zu tun. Die Suche eines adäquaten Wohnraumersatzes wird schwieriger.

Welche Probleme haben die bürgerlichen Familien?

Bürgerliche und kleinbürgerliche Familien verlieren zunehmend an Funktionalität, da viele Aufgaben an Institutionen übergeben werden. Weiterhin besteht das Bemühen den sozialen Status mindestens zu reproduzieren beziehungsweise der Wunsch, die Kinder werden etwas Besseres. Beobachtbar sind Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft, die Familien in mehrfacher Hinsicht überfordern und überlasten.

Wirken sich Abstiegsängste der bürgerlichen Familien auf die Kinder und Jugendlichen aus?

Ich glaube, Abstiegsängste wirken sich auf verschiedene Weisen auf die Kinder und Jugendlichen aus. So bedrohen veränderte sozialökonomische Entwicklungen die Qualität der sozialen Beziehungen in den Familien. Werden etwa Erwartungen nach steigendem Einkommen, wachsenden Sozialprestige  nicht mehr erfüllt, kann dies zu zwischenmenschlichen Spannungen der Erwachsenen führen, die sich krisenhaft entwickeln und sich in Trennung oder Scheidung ausdrücken. Abstiegsängste können sich auch in der Gestalt auf die Kinder auswirken, dass die Anforderungen an ihre Entwicklung und Entwicklungsgeschwindigkeit steigen. Coaches für Kinder werden von den Eltern organisiert, damit die Kinder die an sie gestellten Erwartungen aushalten und entsprechen.

Wird aus Angst vor der Zukunft Druck ausgeübt?

Der gesteigerte Leistungsdruck, der auf die Kinder und Jugendlichen ausgeübt wird, die teilweise elterliche Hilflosigkeit in der Erziehung, drückt sich sowohl in zunehmenden und schnelleren Beschwerden der Eltern in Kitas und Schulen als auch in der wachsenden Bereitschaft juristische Schritte gegen diese Institutionen oder Mitarbeiter zu ergreifen.

Kann man das in Zahlen ausdrücken?

Durch die frühzeitige Institutionalisierung von Erziehung, werden Erziehungsthemen und –verhalten der Eltern auch früher öffentlich, was dazu führt, dass der Hilfeanstieg bei den unter 6-Jährigen von 2005 auf 2010 um über 50 Prozent zugenommen hat. Die Tiefenprüfung im Bereich der Hilfen zur Erziehung im Jugendamt Steglitz-Zehlendorf hat ergeben, dass der soziale Bereich mit eher geringer Belastung den höchsten Anteil von Hilfen zur Erziehung 2010 und die größte Steigerung seit 2005 aufweist. Das sind die bürgerlichen Kieze.

Was sind andere Folgen, die Sie beobachten können?

Der Versuch, individuelle „Lösungen“ durch Tabletten, Alkohol oder andere Drogen oder Gewalt herbeizuführen, ist eine andere Konsequenz. Auch hier sind Differenzen zwischen den sozialen Gruppen festzustellen: in den Gruppen mit den geringsten sozialen Problemen ist der Anteil psychischer Erkrankungen und Sucht im Vergleich zu den Gruppen mit höheren Belastungen überdurchschnittlich gewachsen.

Alkohol und Drogen sind in den bürgerlichen Kiezen genauso Thema wie überall?

Natürlich haben wir in Zehlendorf auch Drogen-, Alkohol- und Tablettenkonsumenten. Dies differenziert sich bei den Jugendlichen nach der Zugehörigkeit zur jugendkulturellen Peergroup in Abhängigkeit von verfügbaren Geldressourcen.

Ist das Selbstverständnis im Bezirk „uns geht’s doch gut, was kümmern uns Probleme?“

Dieses Selbstverständnis ist mir bei den politischen und administrativen Akteuren im Bezirk noch nie untergekommen. Mir scheint dies auch nicht mehrheitsfähig zu sein.

Was ist der Schwerpunkt Ihrer Arbeit bei Zephir?

Wir engagieren uns in unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit und sprechen insofern auch unterschiedliche Zielgruppen an. Zephir‘ Streetlife wendet sich im Rahmen der mobilen Jugendsozialarbeit an durch Gewalt, Kriminalität sowie Alkohol- und Drogenkonsum auffällige Jugendliche. Mit Zephir’s Sport-Attack bieten wir den Kindern und Jugendlichen im Kiez Freizeit- und Sportmöglichkeiten ebenso wie Angebote der Selbstfindung und der Besprechung von familiären und schulischen Problemen. Die Integrative Lerntherapie von Zephir arbeitet im Bereich der Lese/Rechtschreibschwäche, Rechenschwäche und Lernschwierigkeiten von Kindern.

Sind soziale Solidarität und Bürgersinn in diesem so unterschiedlichen Bezirk ausreichend ausgeprägt?

Davon kann es nie genug geben. Die Etablierung der Runden Tische in Zehlendorf-Mitte und in Zehlendorf-Süd sind meiner Meinung nach ein Ausdruck von Solidarität, Bürgersinn und Ehrenamt. Interessant dabei ist allerdings, und anscheinend kommen wir wieder zum Anfang, das es nicht gelingt, solch ein kiezbezogenes Teilhabeinstrument in Wannsee, Grunewald, Dahlem zu institutionalisieren.

Hier geht es auf die Homepage von Zephir. Dieses Interview erscheint auf dem Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin des Tagesspiegels.

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